Lehrer und Schüler reden GettyImages-538666352

Für eine achtsame und authentische Kommunikation

Die Diskrepanz zwischen dem, was gesagt und non-verbal ausgedrückt wird, führt in der Arbeit mit jungen Menschen zu Missverständnissen. Susanne Krämer von der Universität Leipzig erklärt, wie Achtsamkeit junge Menschen auf einer tieferen Ebene unterstützt.

PORTAL FÜR ACHTSAMKEIT IN DER PÄDAGOGIK

Die Qualität der Kommunikation ist in der Schule das entscheidende Bindeglied zwischen den beteiligten Akteuren Schüler:innen, Eltern, Kolleg:innen und Schulleitung. Sie ist Basis von Beziehung und Lernen. So wurde in den letzten Jahren dieser Aspekt der Professionalisierung in der Aus- und Fortbildung von Lehrer:innen gestärkt und ein größeres Bewusstsein ist entstanden.

Jedoch selbst wenn der Satz Watzlawicks „wir können nicht nicht kommunizieren“ mittlerweile zum Allgemeinwissen gehört, so findet im schulischen Alltag noch häufig eine Spaltung des nonverbalen Ausdrucks von den verbalen Aussagen statt. Das geschieht insbesondere dann, wenn sich das Erfüllen von „professionellen“ Rollenbildern vor den authentischen, pädagogischen Ausdruck schiebt. Betrachten wir diesen Aspekt aus dem weiten Feld der Kommunikation anhand eines Beispiels genauer.

Ein Beispiel aus der Praxis

„Würdest Du jetzt bitte Dein Heft herausnehmen“, sagt die Lehrerin zum dritten Mal und lächelt Lisa an. Eine freundliche Aufforderung. Wäre da nicht die Anspannung in den Schultern und Händen, die Augen, die leicht verengt sind, die angehobene Stimmlage. Ist die Lehrerin jetzt wütend auf sie oder will sie nur an den nächsten Arbeitsschritt erinnern, überlegt Lisa und duckt sich lieber vorsorglich weg.

Eine lapidare Situation, die in dieser Form wohl unzählige Male pro Tag in unseren Schulen stattfindet. Doch was findet hier eigentlich statt? Die Lehrperson erfüllt ihre pädagogische Rolle, nutzt eine respektvolle Wortwahl und signalisiert mit einem Lächeln Zugewandtheit.

Aber ihr Körper sendet die gegenteilige Aussage. Sowohl der erhöhte Muskeltonus, die Stimmlage als auch die Mikroexpressionen um die Augen senden die Botschaft, du störst, hältst auf, ich bin von Dir genervt. Der Körper ist der „Übersetzer der Seele ins Sichtbare“, benennt es Christian Morgenstern. Und so äußert sich hier im Nonverbalen unbewusst die unterdrückte, aggressive Haltung.

Treffen aber zwei gegenläufige Aussagen aufeinander, entsteht eine Inkongruenz, die von Lisa nicht zu deuten ist. Sie kann durch die unstimmigen Signale nicht klar definieren, in welcher Emotion sich ihr Gegenüber befindet.

Kinder entwickeln „Gefühlsanalphabetismus“

Das ist im einzelnen Fall vielleicht nicht ausschlaggebend, jedoch gibt es im schulischen Kontext die Tendenz, dass Lehrpersonen jede Form von Emotionen verdrängen oder hinter einer Maske verstecken. „Viele Lehrerinnen und Lehrer haben sich – nicht zuletzt unter dem Einfluss negativer Erfahrungen – unter Preisgabe von Identität auf den Posten einer »identitätslosen Unangreifbarkeit« zurückgezogen“. Sie „schneiden sich damit vom Zugang zu sich selbst ab“ schreibt Joachim Bauer (Bauer, Unterbrink & Zimmermann, 2007, S. 10). Sie „berauben die Kinder der Begegnung mit einem Menschen aus Fleisch und Blut, der Spontaneität und Emotionen zeigen kann.“

Ziehen sich immer mehr Lehrpersonen hinter diesen unpersönlichen „Schutzwall“ zurück, kann es so weit gehen, dass Kinder geradezu einen „Gefühlsanalphabetismus“ entwickeln. Sie sind nicht mehr in der Lage, Emotionen zu „lesen“. Gerade im Grundschulbereich gibt es die ausgeprägte Haltung, dass gewisse Emotionen nicht ins Spektrum einer pädagogischen Fachkraft passen. Wut, Ärger, Aggression werden verdrängt, was neben fatalen Folgen für die Psychohygiene der Lehrkräfte, auch zu Unklarheiten führt.

Es ist auch eine verpasste Chance des sozio-emotionalen Lernens der Schüler:innen. Denn das findet immer am modellhaften Vorbild statt. Dieses Prinzip wurde durch die Entdeckung der Spiegelneuronen bestätigt: „Sehen wir einen anderen Menschen eine Handlung ausführen, so wird die Beobachtung dieser Handlung in unserem Gehirn Nervenzellen in Aktion setzen, die auch dann aktiv werden müssten, wenn wir die beobachtete Handlung selbst ausführen.“ (Bauer 2010, S. 8)

Vorbild sein: Umgang mit Emotionen vorleben

Würde die Lehrperson also die Emotionen zulassen, sie selbstwirksam regulieren und im besten Falle in ein konstruktives, klares Handeln lenken, lebt sie einen beispielhaften Umgang mit Emotionen vor. Und genau an diesem Punkt setzt die Möglichkeit ein, mit achtsamkeitsbasierten Methoden zu einem kongruenten, authentischen Ausdruck zu kommen.

Alle Achtsamkeitsübungen schaffen eine Verlangsamung, so dass zwischen Reiz und Reaktion ein Raum entsteht. In diesem Raum nehmen wir uns selbst wahr, sowohl Emotionen, als auch ihre körperlichen Entsprechungen (Anspannung, Hitze, Herzklopfen…). Wir können sehen, welche Gedanken diese Reaktionen ausgelöst haben: Wertungen und (Vor-) urteile gehen uns durch den Kopf („Sie war unaufmerksam, ignoriert mich.“).

Dahinter tauchen tiefere Glaubenssätze auf („Wenn mir nicht zugehört wird, bin ich nicht gut genug.“) und unser ganzes System gerät in Alarmbereitschaft. Denn »gesehen zu werden«, in unserer Existenz bestätigt zu werden, ist eines der existenziellen Grundbedürfnisse unseres Menschseins (vgl. Kramer 2009, S 62 ff).

Die Wahrnehmung und Mitverfolgung dieser automatisch ablaufenden psychologischen Muster, ermöglicht uns, aus dem »Autopiloten« auszusteigen. Wir können unsere Perspektive weiten und nachfragen, ob mein Erleben wirklich der Realität entspricht oder ob die Situation auch anderes interpretiert werden könnte. Gegebenenfalls lässt das Innehalten auch ein Verstummen des Selbstnarrativs zu, das uns durch die stete Wiederholung der eingeprägten Glaubenssätze ein verzerrtes Bild der Realität vorgaukelt.

Wenn ich aus dieser »ich-bezogenen Wirklichkeitswahrnehmung« heraustreten kann, löse ich mich sowohl von meiner Rollenmaske als auch von Projektionen und mein Gegenüber wird sichtbar. Aber nicht als ein von seiner Umwelt getrenntes Objekt, sondern die systemischen Zusammenhänge treten hervor: die Umgebungsfaktoren (einige Kinder sind heute unruhig), die familiäre Prägung (Lisa lebt durch drei Geschwister einen sehr reizüberfluteten Familienalltag und reagiert deshalb oft nur auf sehr gezielte Ansprache), die eigenen Anteile (die ersten Aufforderungen waren an eine andere Klassengruppe gerichtet, bezogen Lisa zu wenig ein).

Durch Achtsamkeit entsteht Vertrauen

„Jeder Mensch will wahrgenommen werden und jeder Mensch will als der, der er ist, wertgeschätzt werden“, so beschreibt es der Gymnasiallehrer Max Althammer (in Krämer 2019, S.38). Er sieht Achtsamkeit nicht nur als Möglichkeit, sich im Unterricht mit sich selbst zu verbinden, sondern auch um jeden einzelnen Schüler in den Blick zu nehmen und zumindest einen kurzen Moment wirklich wahrzunehmen.

„Das spüren die Schüler. Und das führt dann dazu, dass sich ein höheres Maß an Vertrauen bildet. Auf diese Lehrer-Schüler Beziehung des gegenseitigen Vertrauens und der Wertschätzung lässt sich dann auch ein guter, produktiver Unterricht gestalten.“

Die Fähigkeit, ganz in den gegenwärtigen Moment zu kommen, verbindet sich mit der Lenkung des Aufmerksamkeitsfokus und der Erkenntnis der interrelationalen Struktur des Menschseins (vgl. von Brück 2020, S. 165), so dass ich meinem Gegenüber mit Mitgefühl begegne: Und plötzlich sehe ich, dass Lisa heute etwas blass und müde aussieht, vielleicht schlecht geschlafen hat und sich so leicht ablenken lässt. Ich nicke ihr verständnisvoll zu, lächle und sage: „Lisa, kannst Du bitte Dein Heft herausnehmen.“

Oder – und diese Ergänzung um Missverständnissen vorzubeugen – ich sehe, dass es für die Situation und mein Gegenüber hilfreicher ist, eine klare Ansage mit entsprechendem nonverbalem Ausdruck zu machen (bestimmter Tonfall, gerade Kopfhaltung, direkter Blick). Eine achtsame Haltung schließt die ganze Palette unserer Ausdrucksfähigkeit ein. Sie wird aber zu einem authentischen, kongruenten Auftreten führen, das sich der systemischen Verbundenheit bewusst ist und ein konstruktives, situationsadäquates Handeln ermöglicht.

Die Persönlichkeit auf tieferer Ebene unterstützen

Was nimmt die Schülerin von diesem inneren Prozess wahr? Die Lehrperson mit einem angespannten, gereizten Gesichtsausdruck, dann eine Kontaktaufnahme, Resonanz in einem ständigen Wechselspiel, die Veränderung von mimischen Mikroexpressionen, das Gesicht wird weicher.

In diesem Kontakt findet nicht nur ein Wechsel der inneren Gestimmtheit statt. Sowohl bei der Lehrperson als auch bei der Schülerin, die den Wandlungsprozess durch die Aktivität der Spiegelneuronen „miterlebt“, bahnt sich eine neue Verschaltung im Gehirn (vgl. Bauer 2019, S. 24).

Es ist eine neue Verhaltensstrategie erlernt worden, situationsadäquates, mitfühlendes Handeln wird möglich. In diesem Sinne hat die „Wiederentdeckung des freien Willens“ (s.a. gleichnamiges Buch von Joachim Bauer, 2015) eine sowohl gesellschaftliche, soziale als auch politische Tragweite. In dem Bewusstseinswandel zu einem systemischen Denken liegt das Potenzial aus einem reduktionistischen Kosten-Nutzen Denken zu einem nachhaltigen, kooperativen und lebenserhaltenden Handeln zu kommen.

Ein Bildungssystem, das die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit auf dieser tiefen Ebene unterstützt, gibt Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit, die Welt von morgen zu gestalten. Eine Säule dieses Prozesses: die Achtsamkeit.

Susanne Krämer

Literaturhinweise:

  • Bauer, J., Unterbrink, T. & Zimmermann, L. (2007) Verbundprojekt Lange Lehren/Gesundheitsprophylaxe für Lehrkräfte: Manual für Lehrer-Coachinggruppen nach dem Freiburger Modell. Dresden: Selbstverlag der Technischen Universität Dresden.
  • Bauer, J. (2010) „Die Bedeutung der Beziehung für schulisches Lehren und Lernen. Eine neurobiologisch fundierte Perspektive.“ Pädagogik 62, Heft 7–8/2010, 6–10.
  • Bauer, J. (2015): Selbststeuerung: Die Wiederentdeckung des freien Willens. München: Karl Blessing.
  • Bauer, J. (2019) Wie wir werden wer wir sind. Die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz. München: Karl Blessing
  • Brück, M. (2020) „Geistesschulung und moderne Anthropologie. Kann sich der Mensch selbst verändern?“ In: Frey, R. (2020) Meditation und die Zukunft der Bildung. Spiritualität und Wissenschaft, S. 154-168. Weinheim, Basel: Beltz Juventa
  • George C., & Solomon, J. (Eds., 1996) Defining the Caregiving System. Special issue of the Infant, Mental Health Journal, Vol. 17(3).
  • Kramer, G. (2009): Einsichts-Dialog. Weisheit und Mitgefühl durch Meditation im Dialog. Freiburg: Arbor.
  • Krämer, S. (2019) Wache Schule: Mit Achtsamkeit zu Ruhe und Präsenz, Paderborn: Junfernmann

Susanne Krämer leitet das Projekt „Achtsamkeit in der Bildung und Hoch-/Schulkultur“ (ABiK) am Zentrum für Lehrer*innenbildung und Schulforschung der Universität Leipzig. Ziel des Vorhabens ist eine breitflächige Verankerung von Achtsamkeitsangeboten an der Hochschule. Alle angebotenen Formate schließen die Achtsamkeitsdimensionen von individueller, sozialer und ökologischer Achtsamkeit mit ein. Krämer ist in den Netzwerken „Achtsamkeit in der Bildung“ und „Achsame Hochschulen“ aktiv. Zu ihrem Buch „Wache Schule: Mit Achtsamkeit zu Ruhe und Präsenz“ bietet Susanne Krämer eine gleichnamige Fortbildung für Lehrer*innen an. Sie ist Dozentin in der AVE-Weiterbildung für Pädagog*innen.

Bildquellen dieser Seite anzeigen

  • Lehrer und Schüler: filadendron / Getty Images
  • Susanne Krämer: privat