Kind im Schnee

Glaube nicht alles, was du denkst

Kinder verhalten sich oft anders als wir meinen, dass sie sich verhalten sollten. Steve Heitzer zeigt, wie unsere Glaubenssätze uns stressen und den Kontakt zu unseren Kindern verhindern. Er plädiert für mehr Gelassenheit.

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Eine Mama klagt über ihre Tochter, die beim Zähneputzen den Mund nicht aufmacht, eine andere über ihren Sohn, der beim Yoga immer auf ihr herumklettert. Eine dritte ist befremdet von Kindern, die sie kaum kennt, und die sie dennoch viel zu schnell in ein körperliches Schubsen und Balgen verstricken. Ist das nicht distanzlos?

Ein Vater ist traurig über seinen Sohn, der „blöder Papa“ zu ihm sagt, und empört, als er auch noch beginnt nach ihm zu treten. Und die Großeltern meinen, ihr Enkel sollte sich benehmen, nicht nur wenn er wütend ist, sondern auch, wenn es um so selbstverständliche Dinge geht, wie bitte und danke zu sagen …

In der Elternbildung komme ich immer wieder in die Verlegenheit, als „Experte“ dazustehen, dem man Fragen stellen kann, die so oder so ähnlich beginnen: „Was tue ich, wenn…? Wie bringe ich mein Kind dazu, …? Was kann ich tun, damit mein Kind nicht immer…?“ oder: „Was kann ich tun, damit mein Kind endlich versteht, dass …?“

Die Sollte-Welt

Bevor wir in die Details solcher Geschichten eintauchen, eine steile Behauptung von mir: Wir müssen viel früher ansetzen. Wir müssen uns einklinken, bevor diese Fragen entstehen. Je länger ich mit Kindern und v.a. Eltern arbeite, desto klarer wird mir, was eine der wichtigsten Übungen für unser Miteinander mit Kindern ist: Sätze herauszuhören, herauszufiltern, zu identifizieren, die sich auf die Formel „Mein Kind sollte…“ reduzieren lassen.

Mein Kind sollte nicht auf mir herumklettern. Mein Kind sollte sich die Zähne putzen lassen. Mein Kind sollte das verstehen. Mein Kind sollte zu mir nicht „blöder Papa“ sagen. Und natürlich sollte mein Kind nicht nach mir schlagen!

Es lohnt sich, unsere Sätze zu finden, sie zu formulieren, sie aufzuschreiben. Und dann? Lesen, anhören, in den Mund nehmen, kauen, draufbeißen. Warum? Um ihren Gehalt zu schmecken. Und sie zu prüfen. Und uns zu erlauben, nicht alles zu glauben, was wir denken.

Widerstand gegen das, was ist

Sie stellen sich zwischen uns und die Wirklichkeit, zwischen uns und unsere Kinder. Mit solchen „Mein Kind sollte-Sätzen“ schalten wir innerlich auf Widerstand gegen das, was ist. Das ist wie mit dem Auto in einer langen Schlange vor der roten Ampel zu stehen und zu hupen. Der zeitgenössische Weisheitslehrers Eckhart Tolle spricht in diesem Zusammenhang auch von einem „gewohnheitsmäßigen defensiven Nein“.(1) In Anlehnung an Zeilen von ihm hier eine Übung für uns:

Schau, wann immer es dir möglich ist, nach innen, um festzustellen, ob du gerade einen Konflikt erzeugst zwischen dem, was dein Kind tut oder sagt, und dem, was dein Kind (nicht) tun oder sagen sollte. Zwischen dem, was passiert, und deinen Gedanken und Gefühlen.

Kannst du spüren, wie schmerzhaft es ist, innerlich Widerstand zu leisten gegen das, was ist? Wenn du das erkennst, wirst du auch merken, dass es dir jetzt freisteht, diesen unnützen Konflikt, diesen inneren Kriegszustand aufzugeben. (2)

Kinder sind Kinder

Kinder sollten sich benehmen, sollten nicht stören, sollten funktionieren. Doch Kinder sind das pralle Leben. Und das Leben spielt anders. „Sollte-Sätze“ sind Glaubenssätze, Bilder von Kindern, Gedanken – nicht die Wirklichkeit. Sie stellen sich zwischen uns und unsere Kinder. Sie werden zum Hindernis, um gut im Kontakt mit unseren Kindern zu bleiben und um der Situation und unseren Kindern gerecht zu werden.

Kinder machen nicht alles so, wie wir Erwachsene uns das vorstellen oder wünschen. Kinder sind Kinder. Und Gott sei Dank gehorchen sie nicht mehr einfach so, wie das früher erwartet und notfalls mit Gewalt durchgesetzt wurde. Wenn wir in diesen Sätzen feststecken (ohne uns dessen bewusst zu sein), bleiben wir in der Falle der Erziehung gefangen:

  • Das Verhalten meines Kindes ist falsch (was sich für ein Kind anfühlt wie: ich bin falsch).
  • Wir Erwachsene müssen Kindern beibringen, was sich gehört.
  • Wir müssen Kinder erziehen, sie dazu bringen, das zu tun, was wir für gut und richtig halten.

Dagegen halte ich es für besser, uns klarzumachen:

  • Ein Kind verhält sich so, wie es sich verhält. Es hat seine Gründe dafür, die wir nicht alle kennen, und auch nicht alle kennen müssen. Auch wenn es sich lohnt, manches besser zu verstehen, das heißt die Bedürfnisse dahinter zu verstehen, oder zu verstehen, wie sich eine Situation für unsere Kinder anfühlt, welche Gefühle bei Kindern zum Ausdruck kommen.
  • Kinder sind den Erwachsenen unterlegen, die oft Entscheidungen gegen den Willen der Kinder treffen (müssen). Diese Ohnmacht macht sie traurig und wütend. Wir dürfen Entscheidungen treffen und Kinder dürfen Gefühle haben.
  • Wir müssen Kindern nichts beibringen. Wir können damit rechnen, dass in der Kindheit unser eigenes Verhalten das wichtigste Modell ist, an dem sie lernen. Wir können darauf vertrauen, dass unser Kind langsam lernt mit Gefühlen umzugehen und respektvoll mit uns zu sprechen, wenn wir selbst respektvoll bleiben und ihnen die nötigen Rückmeldungen geben, ohne ihr Verhalten und ihre Gefühle zu dramatisieren.

Ankommen in der Wirklichkeit

Wenn wir im wirklichen Leben ankommen – anstatt in einer Sollte-Welt, die oft eine illusorisch „heile Welt“ ist, steckenzubleiben -, und uns zunächst einfach mal damit anfreunden, dass die Dinge so sind, wie sie sich gerade zeigen, verändert sich die Situation radikal.

Wenn ich nicht ständig von meinem Glaubenssatz gestört werde „mein Kind sollte das doch nicht tun“, kann ich unvoreingenommen untersuchen, was mein Kind eigentlich genau tut, und vielleicht auch herausfinden, warum es das tut.

Letzteres ist nicht entscheidend, denn manchmal finden wir es nicht heraus. Manchmal bleibt es ein Geheimnis, das wir nicht ergründen müssen, um adäquat damit umgehen zu können. Entscheidend ist das „Was“: Genau hinschauen, was passiert, möglichst ohne zu urteilen – eine Definition dessen, was Achtsamkeit meint. Nur zwei Beispiele:

Das Zähneputzen ist einfach ein sehr heikler Akt und zieht leider viele Dramen nach sich, weil wir uns oft der Sensibilität nicht bewusst sind oder nach einem dichten Tag abends einfach selbst keinen Spielraum, „keine Nerven mehr haben“. Und es braucht Fingerspitzengefühl. Es ist eine wiederkehrende Gelegenheit auch für uns, dieses zu erlernen. 

Mein Kind hat vielleicht ein von mir heillos unterschätztes Bedürfnis, mit mir körperlich im Kontakt zu sein; viel spürbarer, viel körperlicher, viel energiegeladener als nur ein bisschen zu kuscheln. Deswegen nützt es jede Gelegenheit, auf mir herumzuklettern.

Kinder dürfen wütend sein

Mein Kind fühlt wie alle Kinder Ohnmacht und Wut, wenn wir Erwachsene Dinge entscheiden: den Fernseher oder Computer ausschalten, das Bad beenden, bestimmen, dass jetzt die Zeit ist, ins Bett zu gehen, oder die Zähne zu putzen. Erwachsene dürfen diese Dinge entscheiden, ja sie müssen ihre Verantwortung für das größere Ganze wahrnehmen. Aber genauso dürfen Kinder Gefühle haben, auch Wut, auch auf uns. Dann passiert es, dass sie „blöder Papa“ sagen.

Immer wieder geht es darum, gelassener zu werden, indem wir den „Erziehungsmodus“ und unsere Glaubenssätze lassen können, ohne damit jedoch jedes Verhalten von Kindern zu billigen. In der wirklichen Welt anzukommen, gibt uns die Möglichkeit, Veränderung zuzulassen, ohne sie erzwingen zu müssen: Was so sein darf, wie es ist, kann sich verändern.“

Das gilt im Übrigen genauso für uns selbst und Sätzen, die beginnen mit „Ich sollte …“.

Steve Heitzer

[1] Eckhart Tolle, Stille spricht, Wilhelm Goldmann Verlag, München, 2.Aufl. 2003, S.69
[2] Vgl. ebd. S. 67.

Zum Dranbleiben: Online-Kurs, Bücher und Podcasts zum Thema

Februar 2023 startet ein Online Kurs mit Steve Heitzer:
Achtung Kinder! – Grundkurs Achtsamkeit & Pädagogik / Mehr Infos und Anmeldung hier.

Buchempfehlungen:

  • Byron Katie: „Lieben, was ist.“ oder „The Work“
  • Naomi Aldort: „Von der Erziehung zur Einfühlung“

Außerdem empfehlen wir folgende Podcast-Folgen mit Steve Heitzer bei Mit Kindern wachsen:

 

Mein Kind nervt – oder etwa nicht?

Steve Heitzer ist Montessoripädagoge und besuchte Fortbildungen bei Rebecca Wild, Jesper Juul u.a. Er ist Theologe, Achtsamkeitslehrer und arbeitet seit 20 Jahren mit Kindern. Steve lebt in Innsbruck und gibt Kurse, Fortbildungen und hält Vorträge zur verschiedenen pädagogischen Themen, berät Eltern im Coaching und arbeitet zum Thema Achtsamkeit und Spiritualität. Hier kommen Sie zu seiner Seite.

Sein Buch "Kinder sind nichts für Feiglinge. Ein Übungsweg der Achtsamkeit" erschien 2016 im  Arbor Verlag. Mehr Infos zum Buch finden Sie hier.

Bildquellen dieser Seite anzeigen

  • Kind im Schnee: lube / photocase.de
  • Steve Heitzer: Sebastian Schieder