In unserer Reaktion liegt die Freiheit

Stressbewältigung durch Achtsamkeit ist in aller Munde. Aber warum kann diese 2000 Jahre alte Praxis heute noch so hilfreich sein? Ulrike Zika mit einem Wissens-Basic über die Wirkmechanismen der Achtsamkeitspraxis.

PORTAL FÜR ACHTSAMKEIT IN DER PÄDAGOGIK

Schon der Stressforscher Richard Lazarus* hat festgestellt, dass die Art und Weise, wie wir auf äußeren Stress reagieren, durch unsere Wahrnehmung und unsere innere Bewertung bestimmt wird. So kann beispielsweise das Auftauchen einer Maus bei einer Person Panik und bei der anderen Belustigung auslösen.

Diese Erklärung ist eine gute Botschaft, denn sie bedeutet, dass wir (negativen) Einflüssen von außen nicht machtlos ausgeliefert sind, sondern ein gehöriges Wörtchen dabei mitzureden haben, wie wir Stress erleben. Unsere eigenen Bewertungen sind also maßgeblich dafür entscheidend, ob wir eine Situation als positiv, negativ oder neutral erleben.

Haben wir also die Meinung, dass Mäuse eklig sind oder haben wir schlechte oder keine Erfahrungen mit diesen Tieren gesammelt haben, reagieren wir anders, als wenn die Maus zu unseren Lieblingstieren zählt, wir schon als Kind mit ihnen gespielt haben und sie niedlich finden.

Stressoren des Alltags

Eine Vielzahl an sogenannten „Stressoren“ wirkt täglich auf uns ein: Körperliche, soziale und umweltbedingte Einflüsse können unseren Körper und unseren Geist in Stress versetzen – hier nochmal ein Beispiel:

Wenn wir eine Bedrohung – zum Beispiel etwas Schlangenförmiges am Wegesrand – wahrnehmen, kommt es innerlich zur Kampf-, Flucht- oder Erstarrungs-Reaktion, die uns in Alarmbereitschaft versetzen kann. Diese Reaktionen können in Sekundenschnelle ausgelöst werden und uns in lebensbedrohlichen Situationen viel Zeit sparen und uns unmittelbar reagieren lassen.

Schlange oder nur ein Stock? Unser Körper reagiert blitzschnell auf den Stressor.

 

Wir springen dann mit einem Satz zurück, noch bevor wir überhaupt richtig wissen, was wir genau gesehen haben – auch wenn letztlich gar keine Schlange, sondern ein Stück Seil oder Plastik am Wegesrand liegt. Evolutionär betrachtet, ist das ein hilfreicher Mechanismus, der im Ernstfall, also wenn wirklich eine giftige Schlange da ist unser Überleben sichern kann.

In unserem Alltag, in dem die Bedrohung aber häufig gar nicht lebensbedrohlich ist, können die damit verbundenen Stressreaktionen jedoch auch viel Schaden anrichten. Das geschieht vor allem dann, wenn der Stress chronisch wird und wir nicht mehr in die Entspannung zurückfinden. Ein Blick auf die physiologischen Abläufe bei Stress macht dies deutlich.

Was im Köper passiert bei einer Stressreaktion

Unser Gehirn und Nervensystem sorgen im Alarmmodus dafür, dass wir unsere Muskeln anspannen, unser Blutdruck steigt und unser Herz-Kreislauf-System zur Hochform aufläuft, um unseren Körper auf Flucht oder Kampf vorzubereiten und damit unser Überleben zu sichern. Die Pumpleistung unseres Herzens wird drastisch erhöht, damit unsere Arme und Beine im Bedarfsfall flink und stark sind. Eine schnelle Abfolge an neuronalen Entladungen findet in unserem Gehirn statt und die Stresshormone Adrenalin, Noradrelanin und Cortisol werden ausgeschüttet.

Wir geraten in solchen Momenten in einen Zustand der Übererregung, der unsere Sinneswahrnehmungen intensiviert, um möglichst viel Gefahrenrelevantes wahrzunehmen: Die Pupillen weiten sich, das Gehör wird sensibler, unsere Körperbehaarung stellt sich auf – allesamt Maßnahmen, um Gefahr von außen schneller zu erkennen. Gleichzeitig werden Verdauung und Immunsystem heruntergefahren, denn diese Funktionen dienen nicht dem unmittelbaren Überleben und müssen quasi auf bessere Zeiten warten, wenn wieder Entspannung und Regeneration möglich ist.

Was stresst mich da eigentlich?

Dass es heute in unseren Breiten vorrangig soziale Bedrohungssituationen sowie unsere eigenen Gedanken, mentalen Prozesse und Gefühle sind, die uns im Alltag zu schaffen machen, weiß unser Körper nicht. Der physiologische Ablauf ist immer noch jener, der zum Einsatz kommt, wenn wir mit einem gefährlichen Tier oder einem Stammesrivalen kämpfen oder vor ihm davonlaufen müssen.

Ob und in welcher Intensität nun diese Kettenreaktionen in unserem Körper ablaufen, hat viel mit unserer Bewertung des Stressors zu tun. Befinden wir bei der Betrachtung der Situation die Bedrohung für harmlos, ist es uns möglich, die Erregung wieder einzubremsen und uns zu entspannen.

Wenn wir also instinktiv vor einem Stück Plastik erschrocken sind und feststellen, dass unser Stressor gar keine Schlange, sondern nur ein Stück Müll am Wegesrand war, entspannen wir uns in der Regel rasch und können unsere Erregung wieder herunter regulieren.

Bei sozialen Konflikten oder innerem Gedankenkreisen gelingt uns das oft weniger rasch. So steigern wir uns in unseren Selbstgesprächen manchmal richtig in Bedrohungen hinein, von denen wir nicht sicher sein können, ob sie überhaupt existieren. Unsere Fantasie kann beispielsweise einen vermeintlich „unfreundlichen Blick“ einer anderen Person als persönliche Angriff werten, obwohl unser Gegenüber vielleicht einfach gerade starke Kopfschmerzen hat und uns aus diesem Grund mit schmerzverzerrtem Gesicht ansieht.

Zwischen Reiz und Reaktion

John Kabat Zinn beschreibt in seinem Bestseller „Gesund durch Meditation“, dass wir auf die Erfahrung von Stress dann einen Einfluss haben, wenn wir uns in Stresssituationen unserer Handlungsoptionen und der Bedeutung der Macht unserer Reaktion bewusst werden. Hierfür ist es jedoch nötig, den Raum zwischen Reiz und Reaktion zu weiten – und genau dabei hilft uns Achtsamkeit.

Um die eigenen inneren Stressreaktionen besser steuern zu lernen, müssen wir sie erst einmal wahrnehmen. Ein regelmäßiges Innehalten kann uns dabei unterstützen, die in uns ablaufenden Mechanismen bewusst mitzubekommen.

Ab und zu innehalten und spüren – wie geht es mir gerade?

Achtsamkeitsübung: „3-Minuten Check-In“

Wir können es uns zur Gewohnheit machen und während des Tages regelmäßig – zum Beispiel stündlich – einen kurzen Check-In zu machen, dieser dauert nicht länger als 3 Minuten:

Nehmen Sie dazu einen tiefen Atemzug und lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit zunächst auf Ihren Körper: Was können Sie jetzt in diesem Moment in Ihrem Körper wahrnehmen? Wie fließt Ihr Atem? Können Sie Anspannung in Ihrer Muskulatur wahrnehmen oder sind Sie entspannt? Sind Ihre Schultern hochgezogen oder fallen sie locker nach hinten? Versuchen Sie, mit den nächsten Atemzügen bewusst Ihre Muskulatur, soweit Ihnen das jetzt möglich ist, zu entspannen und Ihren Atem bewusst für einen Moment lang wahrzunehmen. Was können Sie sonst noch in Ihrem Körper wahrnehmen?

Den Achtsamkeitsmuskel trainieren

Wenn wir diese Übung regelmäßig durchführen, trainieren wir unseren „Achtsamkeitsmuskel“. Die Übung kann gut zwischendurch in einer kurzen Pause im stressigen Alltag durchgeführt werden. Je öfter wir üben, umso routinierter werden wir darin werden. Wie wirkt diese Übung:

Nehmen Sie dazu einen tiefen Atemzug und lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit zunächst auf Ihren Körper: Was können Sie jetzt in diesem Moment in Ihrem Körper wahrnehmen? Wie fließt Ihr Atem? Können Sie Anspannung in Ihrer Muskulatur wahrnehmen oder sind Sie entspannt? Sind Ihre Schultern hochgezogen oder fallen sie locker nach hinten? Versuchen Sie, mit den nächsten Atemzügen bewusst Ihre Muskulatur, soweit Ihnen das jetzt möglich ist, zu entspannen und Ihren Atem bewusst für einen Moment lang wahrzunehmen. Was können Sie sonst noch in Ihrem Körper wahrnehmen?

Dann gehen Sie zur nächsten Ebene über und erforschen Sie Ihre emotionale Befindlichkeit. Wie geht es Ihnen gerade emotional? Welche Gefühle sind gerade da? Können Sie sie benennen? Sind Ihre Gefühle neutral, erleben Sie sie angenehm oder unangenehm?

Im nächsten Schritt können Sie sich Ihren Gedanken widmen: Was denkt es gerade in Ihnen? Erfahren Sie gerade belastende und stressvolle Gedanken? Sind viele Gedanken da oder wenige? Ist der Geist ruhig oder hüpft er von Gedanke zu Gedanke, wie ein Äffchen von Ast zu Ast? Einfach nur wahrnehmen, nicht bewerten.

Und zuletzt beobachten Sie bitte, ob es einen Handlungsimpuls gibt, den Sie wahrnehmen können? Was möchten Sie jetzt gerne tun? Einfach wahrnehmen und nicht gleich durchführen.

Nun kommen Sie mit Ihrer Aufmerksamkeit wieder in Ihren Alltag zurück. Sie können jetzt bewusst entscheiden, ob Sie jetzt ein wahrgenommenes körperliches oder emotionales Bedürfnis erfüllen wollen und ihrem Handlungsimpuls folgen oder ihn loslassen wollen.

Nach dem Stress – Nervensystem herunterfahren und entspannen.

Gedanken beobachten, Gefühle benennen

Auch die Aufmerksamkeit auf unser emotionales Befinden kann bereits Stress mildernd wirken: Ein Forschungsteam um David Creswell konnte zeigen, dass allein das Benennen eines schwierigen Gefühls die Aktivität in der Amygdala (jenem Gehirnareal, das bei Bedrohung aktiviert ist), reduzieren kann.

Wenn wir schließlich üben, unsere Gedanken zu beobachten, lernen wir mehr und mehr, uns nicht zu sehr mit ihnen zu identifizieren. Das Betrachten der Gedanken kann uns also dabei helfen, uns von ihnen zu distanzieren. Gerade bei stressvollen und belastenden Gedanken kann dies sehr hilfreich sein und uns darin unterstützen, die inneren stressigen Kettenreaktionen und Automatismen zu durchbrechen.

Und wenn wir uns dann noch darin trainieren, unsere Handlungsimpulse wahrzunehmen, bevor wir sie ausführen, weitet diese Kompetenz den Spielraum für unsere Reaktionen. So kann ein Gefühl von Freiheit und Selbstwirksamkeit entstehen, das unserem Stresserleben kraftvoll entgegenwirkt. Viktor Frankl, jener österreichische Psychiater, der das Konzentrationslager überlebt hat, soll die heilsame Wirkung der Entscheidungshoheit über den eigenen Reaktionsraum wie folgt zum Ausdruck gebracht haben: „Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.“

Ulrike Zika

*Stressmodell nach Lazarus

 

Mental Load im Lehrerberuf

Ulrike Zika ist diplomierte Sozialarbeiterin und Sozialpädagogin mit einem Master-Abschluss in Achtsamkeit in Bildung, Beratung und Gesundheitswesen. Sie ist Trained MSC-Teacher, Ernährungsberaterin nach Traditionell Chinesischer Medizin und Expertin für ganzheitliche Gesundheit. In Trainings, Workshops, Kursen und Beratungen unterstützt sie Menschen darin, ihre innewohnende Weisheit (wieder-)zu entdecken und mit Zugängen der Achtsamkeit Mitgefühl und Fürsorge für sich und andere zu üben und zu etablieren. Mehr auf ihrer Website.

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  • Waschbär: Gary Bendig / unsplash
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  • Ulrike Zika: Robert Saringer