Atmen

Jetzt auch noch Achtsamkeit!

Achtsamkeitseminare erhalten Einzug in den pädagogischen Kontext. Doch Lehrkräfte können davon gestresst sein, weil zu ihren ohnehin schon endlosen Aufgaben-Listen scheinbar noch mehr dazu kommt. Ein Plädoyer für die kleinen Schritte und für das simple Atmen.

PORTAL FÜR ACHTSAMKEIT IN DER PÄDAGOGIK

Ich habe gestern ein dreistündiges Einführungs-Seminar gegeben in einem Gymnasium, das Achtsamkeit in seinen siebten Klassen standardmäßig eine Stunde die Woche unterrichtet. Zu der Fortbildung kamen 10 Pädagog*innen, die in einem hohen Maße interessiert waren, Achtsamkeit kennenzulernen, zu vertiefen oder aufzufrischen. Alle waren sehr offen und motiviert, haben mitgearbeitet, Fragen gestellt, diskutiert und die Übungen interessiert ausprobiert.

Doch in der letzten halben Stunde kam bei zwei Teilnehmer*innen eine seltsame Stimmung auf. Die eine wurde unruhig, weil auf sie zuhause noch ein Berg Arbeiten wartete, der korrigiert werden sollte. Die andere war mit Gefühlen von Überforderung und Druck konfrontiert. Die Messlatte war ihr zu hoch.

Achtsamsein ist Stress für mich

Beide sprachen plötzlich davon, dass es sie stresst, wenn sie jetzt auch noch „alles ganz achtsam“ machen sollen. Sie seien so „drüber“. Eigentlich wollen sie einfach gar nichts machen. Einfach nichts tun und entspannen – und nicht mal eine Achtsamkeitsübung machen.

Die eine Kollegin beschrieb sehr vorsichtig ihr Empfinden: Als die Übung angekündigt wurde, war sie in Widerstand, sie wollte keine Übung machen. Als sie ihren Widerstand überwunden hatte, hat sie die Erfahrung (Bodyscan) sehr genossen. „Ich habe mich entspannt und gedacht, ach ist das schön“.

Trotzdem sei sie gestresst von dem Gedanken, alles achtsamer machen zu müssen. Ob es denn nicht einen etwas niedrigschwelligeren Weg gäbe. Ich schlug ihr vor, einfach einmal am Tag achtsam zu essen oder die morgentliche Dusche bewusster zu genießen. Auch das war ihr zu viel. Überall aus der Ratgeberliteratur kämen Tipps und Übungen, die man machen soll, damit es einem besser geht oder man sein Leben „sinnvoller“ lebt. Das sei alles so stressig.

Erst dann verstand ich. Ich schlug vor, dass sie einfach atmen solle. Sie lachte und freute sich wirklich über diesen Weg. „Ok, ja, dann atme ich einfach.“

Ich will dir ja nur Gutes …

Bei unseren hehren Absichten als Achtsamkeitslehrende, den Lehrer*innen und Schüler*innen mit der Achtsamkeit Gutes tun zu wollen, dürfen wir nicht den Blick verlieren für das, was momentan tatsächlich möglich ist. Viele Lehrkräfte sind extrem angespannt und überfordert – insbesondere nach der Corona-Pandemie ist dies in vielen Schulen spürbar.

Und die Achtsamkeit, so hilfreich und stressreduzierend sie auch wirken mag, hat erst einmal einen hohen Anspruch und fordert uns. Sie braucht eine hohe Bereitschaft und verbraucht zeitliche und mentale Ressourcen. Vor allem wenn bei den Seminarteilehmer*innen ankommt, dass sie von nun an ständig „achtsam sein sollen“ oder täglich bestimmte Übungen machen sollten – für die man ja auch erstmal die Rahmenbedingungen schaffen muss.

Der hohe Anspruch, den viele Lehrkräfte an sich selbst haben, wird durch den Gedanken an Achtsamkeit anfangs nicht unbedingt geschmälert. Jeder, der mit dem Thema Leistungsdruck „eine Geschichte“ hat, könnte hier schnell in die Falle tappen und das Gefühl bekommen, das mit der Achtsamkeit „jetzt auch ganz viel und ganz richtig“ machen zu müssen – und das stresst natürlich.

Einfach nur atmen

Und dann erinnerte ich mich an meine Anfänge mit der Achtsamkeit. Ich war damals im Stress und in einer Sinnkrise. Ich traf auf einen Lehrer, der mir bewusst machte, dass ich lebendig bin und dass dies etwas Kostbares, Wunderbares, ja fast Magisches sei. Das war für mich ein Game-Changer. Und die einzige Übung, die ich daraufhin für die nächsten Wochen ganz von alleine und wie natürlich machte, war das Atmen.

Ich atmete und es war köstlich, es war entspannend, es war erleichternd.

Lehrkräfte sollten von einem Seminar nicht mit dem Eindruck nach Hause gehen, dass sie jetzt noch mehr zu tun haben als zuvor. Gleichzeitig ist es aber auch so, dass man für die Beschäftigung mit dem Konzept der Achtsamkeit auch ein gewisses Maß an Bereitschaft und Ressourcen braucht. Sie kommt sehr leicht daher, doch wenn man tiefer gehen möchte und vor allem, wenn man selbst Schüler*innen anleiten möchte, sind damit auch Aufgaben und Herausforderungen verbunden.

Auch Kindern kann Achtsamkeit zu viel sein

Wie oder ob überhaupt der einzelne schließlich seinen Weg mit der Achtsamkeit geht, liegt nicht in der Hand des Lehrenden. Und so geht es auch in Bezug auf die Kinder. Auch wenn wir Kinder unterrichten, können wir nur Samen säen. Und es kann sehr gut sein, dass es dem ein oder anderen einfach zu viel ist. Auch in dem Seminar gestern kamen hier viele Fragen zu möglichen Widerständen bei den Kindern, oder was man tun kann, wenn Kinder die Übung absichtlich anders machten oder störten. Den Kindern geht es da nicht anders als Lehrkräften, die vielleicht aufstöhnen mit einem genervten „Jetzt nicht auch noch Achtsamkeit!“

Ich wünsche uns allen viel Leichtigkeit und Gelassenheit mit dem Thema Achtsamkeit. Es darf leicht sein. Es darf auch mal zu viel sein. Es darf Spaß machen und kann auch mal eine Weile einfach nur das Atmen sein. Das ist nämlich eigentlich schon eine ganze Menge!

Sarina Hassine

Mehr Unterstützung in einem Job mit hohen Belastungen

Kann man es mit der Achtsamkeit übertreiben?

Sarina Hassine unterrichtet seit 2012 Achtsamkeit und Meditation. Da ihr Kinder und die Zukunft der Erde sehr am Herzen liegen, arbeitete sie von Anfang an mit Eltern und Pädagog:innen, u.a. seit 2017 im Rahmen von AiSchu. Sie liebt die Natur, das Meer und die Kunst, ist Mutter von zwei Kindern. Mehr Infos auf ihrer Seite.

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  • Einfach atmen: Jonathan Schöps / photocase.de