Auf der einen Seite des Schulgeländes fließt ein Flüsschen, die „Kleine Luppe“. Auf der anderen Seite schließt sich eine 22,5 Hektar große Parkanlage an – der so genannte Palmengarten. Wenn man durch den „Torbogen“ des Gymnasiums geht, eröffnet sich ein riesiger Schulhof, der von Gebäuden in Bauhaustradition umrahmt wird.
Wer die Mensa betritt, fühlt sich nicht wie in einer typischen Schule. An einer Seite erhebt sich eine hohe Glasfront, die spitz zuläuft und wirkt wie eine Kirchen-Silhouette. An der Decke hängen runde Designlampen. Alles sehr hell, freundlich und modern. „Auch die Aula ist sehr schön“, schwärmt Schulleiterin Mandy Frömmel. Dass dort ein großer Gong steht, verrät, dass die Schule nicht nur architektonisch etwas Besonderes ist.
„Dieses Projekt ist eine Chance, etwas neu aufzubauen.“ Dabei stand von Anfang an die Frage im Raum: Wie muss Bildung im 21. Jahrhundert aussehen? „Schon in den ersten Jahren habe ich gedacht, dass ich eine Schule aufbauen möchte, in der sich Kinder gesehen fühlen“, so Frömmel. „Ich wollte ein gesundes und gehirngerechtes Lernen.“
Die Schule am Palmengarten ist eine von mehreren Leipziger „Schulen im Aufbau“. Das Gymnasium startete 2017/18 mit vier fünften Klassen. 2021 zogen sie um in das Gebäude am Palmengarten. Aus sieben Lehrer*innen wurden 65, aus 94 Kindern sind 900 geworden. „Die Schülerzahlen explodieren regelrecht“, sagt Frömmel. Insgesamt sollen hier bald 1200 Schüler bis zur 12. Klasse beschult werden.
Achtsamkeit lernen und unterrichten
Es ist Achtsamkeitsunterricht in einer 5. Klasse. Dafür gibt es extra einen großen Raum, der nur dafür genutzt wird und der auch in den Pausen als Ort der Entspannung zur Verfügung steht. Es gibt dort viele Matten und Meditationskissen, LED-Kerzen und es duftet nach Lemongras-Raumspray. Die Kinder wissen, wie sie sich hier zu verhalten haben. Sie kommen ohne Schuhe herein und sind leise.
28 Schüler*innen sitzen im Kreis, es ist eine Energie im Raum zu spüren. Zu Beginn der Stunde leitet Mandy Frömmel als Ritual eine Herzübung an. Es geht dabei darum, bei sich anzukommen, das eigene Herz zu spüren und wahrzunehmen, wie es einem in diesem Moment geht. Der weitere Verlauf der Stunde ist nicht fest. Manchmal gibt es eine „stille Minute“ oder andere Mini-Meditationen. Aber auch Rollenspiele, was Künstlerisches, Yoga- und Qigong-Elemente fließen ein.
Frömmel: „Bis vor Kurzem war ich die einzige, die das Fach Achtsamkeit unterrichtet hat. Jetzt sind wir zu dritt. Ich habe einen MBSR-Kurs gemacht, bin aber keine MBSR-Lehrerin. Ich habe mir alles selbst angeeignet.“
„Ich animiere auch meine Kolleg*innen zum Üben und biete Übungen an, wenn sich die Möglichkeit ergibt“, so Frömmel. „Da reichen oft schon fünf Minuten bei den Teamsitzungen oder an den Teamtagen. Außerdem gibt es Fortbildungen und Module für Kolleg*innen, die neu dazu kommen. So wie den Schüler*innen gelingt es auch den Lehrer*innen nicht immer, auf sich selbst zu achten und Pausen zu machen. Es ist ein Entwicklungsprozess.
Es begann mit einer Projektwoche
„Ich bin seit 20 Jahren Lehrerin und war auch vorher schon in der Schulleitung tätig. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass der Stress zunimmt und der Leistungsdruck steigt. Viele Kinder haben den Glaubenssatz, dass sie gefallen müssen, um geliebt zu werden“, berichtet Mandy Frömmel. „Also haben wir uns als kleines Team von Kolleg*innen gleich im zweiten Jahr überlegt, was wir tun können, um dem entgegenzuwirken.“
Wir haben uns Experten zum Thema Achtsamkeit dazu geholt, unter anderen Susanne Krämer [1], damals noch wissenschaftliche Mitarbeiterin des Zentrums für Lehrer*innenbildung und Schulforschung der Universität Leipzig. Sie hat einen Tagesworkshop zum Thema Achtsamkeit für die Kolleg*innen gegeben. Denn natürlich sollen auch die gesund bleiben. Auch achtsame Kommunikation war von Anfang an wichtig. Es geht darum, gut mit sich und mit anderen umzugehen.
Susanne Krämer ist von dem Konzept der Schule überzeugt. „Durch die eigene Verankerung der Schulleiterin in der Achtsamkeitspraxis finden wir hier ein sehr gelungenes Konzept. Es ist kein neues Unterrichtsfach mit festgelegtem Curriculum eingeführt worden, sondern es wird situationsadäquat auf die Schüler*innen reagiert – je nachdem, ob gerade eine anstrengende Prüfungsphase, eine Konfliktsituation in der Klasse oder die Vorfreude auf die Klassenfahrt präsent sind. Erst als zweiten Schritt wurden die „Bausteine“ des Curriculums von einer Studierenden fixiert, um weiteren Lehrpersonen den Einstieg zu erleichtern“, erläutert sie.
„Den interessierten Lehrer*innen soll im Rahmen des ABiK Projekts (Achtsamkeit in der Bildung und Hochschulkultur) des ZLS der Universität Leipzig ein Grundlagenkurs in Achtsamkeit angeboten werden (MTP – Mindful Teachers Program), um dann im zweiten Schritt die Module des TMP (Teaching Mindfulness Program) zur Weitervermittlung zu belegen, erklärt Susanne Krämer.
Gesundes Essen und bewegter Unterricht
„Achtsame Schule“ ist ein wichtiger Baustein an der Schule am Palmengarten. Ein anderer Schwerpunkt ist „gesundes Essen“. Das Thema ist fest verankert. Die Kinder kochen selbst. Jede Woche ist eine Klasse dran. Sie servieren dann auch und kümmern sich um den Schulkiosk. Professionelle Köch*innen helfen ihnen. Außerdem üben wir achtsames Essen.“
„In der Schule verbindet sich Achtsamkeit sehr natürlich mit den gelebten Sustainable development goals (SDG), die einen bereits beim Betreten des Schulhauses begrüßen und u.a. in der Küche mit Schüler*innenbeteiligung umgesetzt werden“, meint Susanne Krämer. „So wird die Haltung der Achtsamkeit nicht als Selbstzweck, sondern als Bewusstseinsbildung zu prosozialen und umweltbezogenen Verhalten in das Schulleben integriert.“
Der schöne Hof wird für die bewegte Pause genutzt. So gibt es einen Ausgleich zwischen Anspannung und Entspannung. Auch Yoga-, Taichi und Qigong-Übungen aus dem Achtsamkeitsunterricht werden manchmal draußen geübt, im Hof, im angrenzenden Park oder im Grünen Klassenzimmer. Auch „Waldbaden“ ist möglich, denn der ganze Schulkomplex ist umgeben von Wasser und Grün.
Bewegter Unterricht findet aber in allen Fächern statt. Die Bewegungssequenzen sind gehirngerecht aufgebaut und machen die Inhalte über den Körper begreifbar. Ein Beispiel für das Üben der Groß- und Kleinschreibung im Unterricht: Wird ein Buchstabe klein geschrieben, dann hockt man sich hin, wird er großgeschrieben, dann steht man auf. Außerdem gibt es Aufgaben auf Zetteln, die überall im Haus angepinnt sind. Es gibt mindestens eine Bewegungseinheit pro Stunde. Selbst bei einem Test kann man zwischendurch mal aufstehen.
Die Übungen stammen von Prof. Christian Andrä, der Professor an der Universität Leipzig war und jetzt in Potsdam lehrt. „Viele unserer jungen Kolleg*innen sind durch seine Ausbildung gegangen“, erklärt Frömmel.
Achtsamkeit im Lehrplan verankern
Das Land Sachsen sagte Stunden zur individuellen Förderung zu, also Stunden, um etwas Eigenes zu machen. Dafür wurden andere Fächer gekürzt. Für Achtsamkeit als Fach wurde ein eigenes schulinternes Curriculum erarbeitet. Aktuell bekommen die 5. und 6. Klassen 14-tägig im Wechsel Achtsamkeit als Methodentraining. Seit Kurzem gibt es auch ein Angebot für die 7. und 8. Klassen. Sie lernen Achtsamkeit in kleineren Gruppen mit etwa 14 Schüler*innen, also der Hälfte der Klasse.
Achtsamkeitstraining in drei Stufen:
- Im Lernbereich 1, der „Einführung – Ich im hier und jetzt“ erfahren die Schüler*innen, was Achtsamkeit ist und welchen Einfluss sie auf das Gehirn hat. Außerdem lernen sie Übungen für Körper und Geist kennen, einfache Meditationen und Atemübungen.
- Im Lernbereich 2 geht es um den Umgang mit Emotionen, das Reflektieren und Bewusstmachen. Wie wirken Stressoren? Wie wirken Gedanken auf mein Befinden? Wie gehe ich mit Angst um? Wie kann ich meine Gedanken regulieren? Und wie lade ich Frieden in mich ein?
- Im Lernbereich 3 geht es schließlich um die eigene Persönlichkeit, um das Selbst- und Fremdbild sowie um Selbstliebe.
Die Kinder und Jugendlichen lernen, die Achtsamkeit auch im Unterricht anwenden zu können, z. B. eine Atemübung zu machen, wenn sie mehr Konzentration brauchen oder eine Visualisierung vor einer Prüfung, um mit dem Druck besser klar zu kommen. Die Leistungen verbessern sich dadurch nachweislich.
„Die Kolleg*innen können auch im Unterricht Übungen einsetzen“, so Frömmel, „egal in welchem Fach, auch in Physik. Viele Kollegen lassen Achtsamkeit als Ritual einfließen. Rituale sind sehr wichtig.“ Noch eine Besonderheit: An der Schule am Palmengarten gibt es kein Pausenklingeln. Jede Lehrkraft hat eine Klangschale.
So geht’s weiter: Achtsamkeit in der Abitur-Vorbereitung
Die Bemühungen zeigen Wirkung. „Die Kinder nehmen die Achtsamkeit sehr gut an. Vor allem die Großen sind total begeistert davon. Das hat wirklich was gebracht“, sagt Frömmel. „Sie reflektieren: Das hat mir gutgetan – das mache ich auch zuhause. Es laufen Bewusstwerdungsprozesses. Sie hinterfragen: Was mache ich eigentlich mit mir? Manchmal sind 6.-Klässler auch genervt von dem Satz ‚Habt euch selber lieb.‘, sagt Mandy Frömmel lachend. “Aber ich werde es immer weiter sagen.“
Auch die Eltern sind begeistert. Das zeigt sich unter anderem an den Anmeldezahlen. Es gibt über 280 Anmeldungen auf 140 Plätze.
Die Schule am Palmengarten hat schon viel umgesetzt und es soll weiter gehen. Frömmel: „Wir gehen in großen Schritten auf die Oberstufe zu. Und ich habe einen verwegenen Plan. Ein schulspezifisches Profil, also für die 11. und 12. Klassen einen Wahlkurs für Achtsamkeit zu machen. Denn gerade die Abiturienten brauchen das. Der Kurs „Resilenz und Persönlichkeitsentwicklung“ wird mit Beginn des neuen Schuljahres starten.
Außerdem möchte die Schule in Zukunft gemeinsam mit Kooperationspartner*innen auch Module für Eltern anbieten.
Derzeit werden innovative Unterrichtszeiten nach dem Biorhythmus getestet. Die Schüler*innen ab der 7. Klasse kommen erst um 9 Uhr und bleiben nachmittags länger. Das Konzept wird an der Universität Leipzig wissenschaftlich evaluiert.
„Das Schulamt in Sachsen unterstützt uns sehr“, so Frömmel. „Wir wurden schon mehrfach aufgefordert, unser Konzept vorzustellen. Auch andere Schulen versuchen, etwas Ähnliches auf die Beine zu stellen. Es ist sehr wichtig, Schulleiter*innen zu schulen.“
Gleichzeitig weiß die Schulleiterin, dass nicht jede Schule so gute Bedingungen hat: „Wir haben hier die Luxusvariante. Man kann Achtsamkeit aber auch in einem einfachen Raum praktizieren, auch ohne Yogamatten. Man kann überall Achtsamkeit üben, sogar in der Straßenbahn. Es ist wichtig mutig zu sein und etwas auszuprobieren. Jedes kleine Puzzleteil hilft schon. Dazu kann ich nur ermutigen.“
Marika Muster
[1] Susanne Krämer leitet am Leipziger Zentrum für Lehrer*innenbildung und Schulforschung (ZLS) das AOK Plus Projekt Achtsamkeit in der Bildung und Hoch-/schulkultur (ABiK). Sie ist Koordinatorin des Forschungsnetzwerks Achtsamkeit in der Bildung und Weiterbildungsleiterin der Lehrer*innenweiterbildung Wache Schule und Dozentin bei der AVE Weiterbildung.
Zur Website der Schule kommen Sie hier Schule am Palmengarten.
Andere Schulen, die Achtsamkeit implementiert haben:
Marika Muster ist Journalistin und hat mehrere Jahre als Lehrerin und Lernbegleiterin an verschiedenen Schulen in Schleswig-Holstein gearbeitet. Sie hat viel Erfahrung in der Erwachsenenbildung (z.B. Schulfach Glück) und in der Seminarleitung mit Jugendlichen (Klimagipfel des BUND). Sie hat "Schulfach Achtsamkeit" gegründet und bietet selbständig Lehrerfortbildungen und Onlinekurse an.