Mehr Mitgefühl mit mir selbst

Mit der „Selbstmitgefühlspause“ können wir Stress auf eine wirksame und heilsame Art begegnen. Die Achtsamkeitsübung kann leicht in den Alltag integriert werden. Ulrike Zika hat sie für uns aufgeschrieben und den Kontext erklärt.

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Im stressigen Alltag Elemente des achtsamen, freundlichen Innehaltens einzubauen, kann uns dabei unterstützen, destruktive physiologische Automatismen zu unterbrechen. Eine besonders hilfreiche und vielfach erprobte Übung ist die sogenannte Selbstmitgefühlspause aus dem Mindful Selfcompassion-Programm von Christopher Germer und Kristin Neff.

Wenn im Alltag der Stresspegel steigt, verringert sich unser Handlungsspielraum, unsere Wahrnehmung wird eingeschränkt und die diversen Stressoren im Außen bekommen unsere ganze Aufmerksamkeit. Das macht aus einem evolutionären Blick durchaus Sinn, denn wenn Gefahr droht, wollen wir schließlich all unsere Kräfte bündeln, um diese zu bannen und unser Überleben zu sichern.

Dass unser Körper in diesen Situationen ein Programm fährt, als müssten wir auf der Stelle dem vielzitierten Säbelzahntiger davonlaufen, mit ihm kämpfen oder uns als letzten Ausweg einfach tot stellen, ist im Fall des klassischen Alltagsstresses allerdings eine Art Themenverfehlung, denn der gefährliche Tiger begegnet uns schon längst nicht mehr.

Der Großteil unserer realen Bedrohungen ist heute nicht mehr körperlicher, sondern zumeist sozialer Natur: Wir ärgern uns über unsere Mitmenschen, fühlen uns ausgegrenzt, benachteiligt oder missverstanden, unser Selbstbild ist bedroht, wir haben Versagensängste, kämpfen mit Scham und Schuldgefühlen oder kritisieren uns selbst innerlich.

Mit der sogenannten „Selbstmitgefühlspause“ können wir diesem Stress auf eine wirksame und heilsame Art begegnen.

Warum uns Selbstmitgefühl bei Stress hilft

Dass uns eine umsorgende Berührung und ein sanfter Tonfall beruhigen und Stress lindern, verdanken wir unserem Fürsorgesystem, das sich evolutionär am Weg vom Reptiliengehirn zum Säugetiergehirn entwickelt hat. Die Jungen von Säugetieren benötigen in ihrer Entwicklung wesentlich länger als Reptilien bis sie selbstständig leben können. Damit sind sie länger auf die Fürsorge der Eltern und insbesondere der Mutter angewiesen. So erfahren wir Menschen Sicherheit bereits als Säuglinge besonders in Form von fürsorglicher Berührung und durch einen sanften, liebevollen Tonfall. Dadurch werden Opiate und Oxytocin im Körper ausgeschüttet und dem Stress auf physiologischer Ebene entgegengewirkt.

Diese evolutionären Prägungen machen wir uns schließlich erfolgreich zunutze, wenn wir im Alltagsstress mithilfe einer achtsamkeitsbasierte Selbstmitgefühlspause unseren Stresspegel reduzieren.

Die Übung: Innehalten als erholsame Insel im Alltagsstress

Die Selbstmitgefühlspause kann als kurze informelle Achtsamkeitsübung leicht in den Alltag integriert werden. Je öfter sie angewandt wird, desto schneller und nachhaltiger wirkt sie. Sie besteht aus den drei Grundelementen des achtsamkeitsbasierten Selbstmitgefühls: Achtsamkeit, dem Gewahrsein des gemeinsamen Menschseins und der Selbstfreundlichkeit.

Achtsamkeit statt Überidentifikation

Wenn wir innehalten, können wir bemerken, dass wir uns gerade in einer schwierigen und stressigen Situation befinden, wir nehmen also wahr, dass wir gerade leiden und im Stressmodus sind. Das ist Voraussetzung dafür, dass wir uns selbst mitfühlend begegnen und uns fürsorglich um uns selbst kümmern können. Wir können uns in solchen Situationen bewusst werden: “Jetzt im Moment ist es nicht leicht für mich. Das fühlt sich gerade nicht gut an.“

Diese Form der Achtsamkeit hilft uns, die nötige innere Distanz zur stressigen Situation aufzubauen, die Situation und unsere emotionale Reaktion darauf wahrzunehmen und uns nicht gleich darin zu verstricken. Wir unterdrücken dann die damit verbundenen sogenannten negativen Gefühle wie Einsamkeit, Wut oder Angst nicht. Durch eine achtsame Wahrnehmung können wir uns den schwierigen Gefühlen vielmehr mit Offenheit und Interesse zuwenden und mit ihnen sein.

Gemeinsames Menschsein statt Gefühle der Isolation

In stressigen und schwierigen Situationen tendieren wir auch dazu, uns mit unserem Problem ganz allein zu fühlen. „Es geht bestimmt nur mir so, alle anderen haben solche Probleme nicht.“, glauben wir dann. Stress aller Art ist ein weit verbreitetes und universelles Phänomen und wenn wir ihn bewusst wahrnehmen, können wir uns gewahr werden, dass uns diese Momente des Leidens mit unseren Mitmenschen verbinden.

Denn in Wahrheit gibt es wohl kein einziges Problem auf der Welt, das wir nicht auch mit Millionen anderen Menschen teilen. Wir alle erleben schwierige und stressige Zeiten. Sich dies in herausfordernden Momenten zu vergegenwärtigen, kann unser körpereigenes Beruhigungssystem aktivieren. Denn Gefühle der Verbundenheit beruhigen uns und lassen uns wieder positive Emotionen empfinden. Gleichzeitig verschwindet das Gefühl der Isolation. Du kannst dir in dieser Situation dann vergegenwärtigen: “Ich bin nicht alleine! Auch andere haben ähnliche Probleme!“

Selbstfreundlichkeit statt Selbstkritik

Wenn wir bewusst und gezielt freundlich zu uns selbst sind, kann das aktivierte Beruhigungssystem unseren Stresspegel auch wieder herunter regulieren. Eine beruhigende Berührung, wie zum Beispiel die Hand auf unser Herz zu legen und innerlich freundliche, wohlwollende und motivierende Worte zu uns selbst zu sprechen kann wie eine Zauberformel wirken und den Alarmmodus in unserem Gehirn schließlich wieder ausschalten. Statt uns selbst auch noch zu kritisieren und kein gutes Haar an uns zu lassen, bieten wir uns dann lieber Sätze an wie „Ich bin okay! Ich darf spüren, was ich jetzt spüre.“ oder„Möge ich freundlich zu mir selbst sein!“

Ulrike Zika

 

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„Ja, es ist anstrengend“

Ulrike Zika ist diplomierte Sozialarbeiterin und Sozialpädagogin mit einem Master-Abschluss in Achtsamkeit in Bildung, Beratung und Gesundheitswesen. Sie ist Trained MSC-Teacher, Ernährungsberaterin nach Traditionell Chinesischer Medizin und Expertin für ganzheitliche Gesundheit. In Trainings, Workshops, Kursen und Beratungen unterstützt sie Menschen darin, ihre innewohnende Weisheit (wieder-)zu entdecken und mit Zugängen der Achtsamkeit Mitgefühl und Fürsorge für sich und andere zu üben und zu etablieren. Mehr auf ihrer Website.

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  • Freundschaft mit sich selbst: Mr. Nico / photocase.de
  • Ulrike Zika: Robert Saringer