Prof. Stefan Schmidt

Myriad – Scheitern oder Chance?

Was bedeuten die überraschenden Studienergebnisse des MYRIAD-Projektes für „Achtsamkeit mit Kindern“? Prof. Dr. Stefan Schmidt von der Universität Freiburg sieht das Problem eher im System als in der Achtsamkeit.

PORTAL FÜR ACHTSAMKEIT IN DER PÄDAGOGIK

Das MYRIAD-Projekt ist eine großangelegte Studie, in der britische Forscher*innen herausfinden wollten, ob Achtsamkeitsprogramme in Schulen das Wohlbefinden und die psychische Gesundheit von Schülerinnen und Schülern positiv beeinflussen können. Über 8000 Schüler*innen und 650 Lehrkräfte nahmen an der acht Jahre dauernden Studie teil. Am Ende der Analyse konnten die Forschenden jedoch keine der erwarteten Effekte feststellen.

Das Gespräch führte Dr. Stefanie Uhrig

Was haben Sie als erstes gedacht, als Sie von den Ergebnissen der MYRIAD-Studien erfahren haben?

Prof. Dr. Stefan Schmidt: Ich glaube, es war „Jetzt hat es die auch erwischt“. Dieses Muster ist in der Wissenschaft gar nicht so untypisch: Kleine Pilotstudien finden große Effekte und stimmen hoffnungsvoll. Je größer und methodisch aufwändiger die Studien zu dem Thema dann werden, desto kleiner fallen die Effekte aus, manchmal verschwinden sie sogar ganz.

Als ich die Studie gründlich gelesen habe, war ich dann doch ein wenig schockiert, dass sich wirklich gar keine Wirkungen zeigen. Oft deuten sich in den Zahlen zumindest Trends an, die eine Richtung für die weitere Forschung erahnen lassen. Aber in dieser Studie könnte man nicht mal einen Effekt finden, wenn man unbedingt wollte.

Was bedeutet das nun für die Achtsamkeitsforschung?

Schmidt: Normalerweise kann man in der Interpretation der Studie herauslesen, wie die Autor*innen die Lage einschätzen. Das ist hier aber sehr kurzgehalten und zurückhaltend formuliert. Es ist eine schwierige Ausgangsposition, wenn man über so viele Jahre mit so vielen Leuten derart aufwändige und teure Studien gemacht hat, und am Ende kommt nichts dabei heraus.

Es gibt auch meines Erachtens nicht den einen Grund, warum die Intervention in dieser Studie keine Effekte abgebildet hat. Manchmal sieht man ganz deutlich, wo etwas schiefgegangen ist oder welche Variable das Problem war. Aber hier lässt es sich nicht auf einen Punkt bringen, was es für die Forschung schwieriger macht.

Mein Verdacht ist, dass die Integration in den Schulalltag auf diese Weise nicht passt.

Also können wir gar nicht sagen, warum die Achtsamkeitsintervention den Schulkindern nicht geholfen hat?

Schmidt: Mein Verdacht ist, dass die Integration in den Schulalltag auf diese Weise nicht passt. Es war ja so, dass die jeweilige Klassenlehrerin oder der Klassenlehrer auch das Achtsamkeitscurriculum unterrichtet hat. Wenn ich mir das vorstelle: Die Lehrerin kommt in die zweite Stunde, wo sie eine Matheprüfung schreiben lässt. In der dritten Stunde praktizieren sie Achtsamkeit und die Lehrerin versichert, dass die Kinder dabei nicht bewertet werden. In der vierten Stunde geht es dann um Deutsch, und natürlich auch wieder um Noten.

Das kann aus meiner Sicht gar nicht funktionieren. In einem Kontext, der immer auf Bewertung und Vergleich ausgelegt ist, können die Kinder nicht plötzlich eine Stunde lang eine andere Kultur leben. Genau das müssten sie aber, um die Idee der Achtsamkeit zu verstehen.

Lässt sich Achtsamkeit dann überhaupt nicht in die Schule integrieren?

Schmidt: Schauen wir uns an, was mit der Achtsamkeit passiert: Sie wird sehr funktional eingesetzt, man will etwas damit erreichen. Das ist eine gute Intention. Man möchte die psychische Vulnerabilität verringern, die die Kinder in diesem Alter haben, und ihnen so Schutz geben. Aber damit entzieht man der Achtsamkeit so ein bisschen den Eigenwert. Der eigentliche Grundgedanke ist doch, es zu tun und zu beobachten, nicht zu werten.

Wenn ich es machen muss, weil es zu einem noch so wohlmeinenden Programm gehört, muss es schon wieder einem Zweck dienen. Dann muss man es auch richtig machen – und wenn man es richtig machen muss, gibt es zwangsläufig auch ein falsch, und damit fallen wir aus der ganzen Logik der Achtsamkeit raus.

Wir müssen hinterfragen, ob wir Achtsamkeit nicht als Mittel der Selbstoptimierung einsetzen.

Von daher finde ich es ganz hilfreich, dass man an einer entscheidenden Stelle gestolpert ist, an der wir reflektieren müssen, wie sich Achtsamkeit in unsere Gesellschaft integriert, und hinterfragen können, ob wir es nicht einfach als nächstes Mittel der Selbstoptimierung einsetzen.

Das führt uns vielleicht zu den Überlegungen, welche Lebensbedingungen für die ganzen Belastungen sorgen und was wir dagegen tun können – anstatt mal schnell Achtsamkeit in den Unterricht zu integrieren und damit sozusagen eine ‚Reparatur‘ vorzunehmen.

Die Autor*innen des MYRIAD-Projekts kommen auch zu dem Schluss, dass die Achtsamkeitsintervention möglicherweise zu weit von den Bedürfnissen der Schulkinder entfernt ist. Wie könnte man das lösen?

Schmidt: Ein ganz wichtiger Schlüssel ist die Freiwilligkeit und Eigenmotivation. Wenn Sie in die Schule kommen und den 20 Kindern vorschreiben, dass sie jetzt Achtsamkeit üben sollen, können Sie an diesem Punkt eigentlich schon wieder aufhören. Die Kinder sind dann in einem System, das ihnen vorschreibt, was sie tun müssen – damit ist ihre Eigenmotivation schon dahin. Sie tun es, weil es auf dem Lehrplan steht oder weil sie ansonsten Ärger bekommen. Was dabei verloren geht, ist die Lust, Achtsamkeit zu lernen.

Anders wäre es, wenn die Kinder sich selbst für so einen Kurs entscheiden und es einfach mal ausprobieren können. Dann finden sie heraus, ob es ihnen Spaß macht und ob die Freunde mitmachen. So hat es einen ganz anderen Platz, sich in ein kulturelles Gewebe einzuflechten. Wir Erwachsenen hätten sicher auch keine Lust zu meditieren, wenn uns vorgeschrieben wird, dass wir es dann und dann machen müssen. Als Angebot finden es aber viele Menschen gut.

Ein weiterer Punkt: Im pädagogischen Kontext dürfen wir die Rolle der Mitschüler*innen nicht vergessen. Kinder machen viele Dinge in Abhängigkeit davon, was sozial angesagt ist. Wer also einer Gruppe von Schulkindern Achtsamkeit beibringen möchte, muss sie auch als Gruppe begeistern.

Ich weiß nicht, wie sie bei MYRIAD damit umgegangen sind. Aber wenn da mal die Idee aufkommt, dass meditieren doof ist, dann ist das Projekt schon vorüber – und so ein soziales Klima entwickelt sich recht schnell. Das heißt, die Lehrenden brauchen sehr gute Beziehungskompetenzen und Herangehensweisen, die im Konzept Schule oft gar nicht möglich sind.

Solche Angebote lassen sich nicht in so einem Top-Down-Prozess durchführen.

Wenn wir auf Freiwilligkeit setzen, erreichen wir aber sicher nicht alle, denen Achtsamkeit guttun könnte, oder?

Schmidt: Wenn Studien sagen, dass Achtsamkeit Stress verringert oder die psychische Gesundheit fördert, ist die Aussage für einen spezifischen Einzelfall begrenzt. Studien bilden ja Mittelwerte ab. Wenn ich jetzt hier die Leute auf der Straße einsammle und mit ihnen eine Meditation machen möchte, finden das manche ganz furchtbar und manche ganz toll. Das wird in der Schule nicht anders sein.

Es ist nun einmal so, dass den Menschen unterschiedliche Dinge guttun. Manche sind eher die sportlichen Typen, die nicht gerne ruhig dasitzen – dann macht ihnen die Mediation vermutlich weniger Spaß und entspannt sie auch weniger als eine Runde joggen zu gehen. Gerade da ist die Freiwilligkeit wichtig, damit die Kinder etwas finden, was nach ihrem persönlichen Geschmack ist.

Sollte das Achtsamkeit sein, werden sie nach mehr fragen – dann hat sich die Situation umgedreht. Die Lehrenden geben plötzlich nicht mehr von oben vor, was die Schüler*innen lernen sollen, sondern die Kinder möchten mehr von ihnen erfahren. Nur lassen sich solche Angebote nicht in so einem Top-Down-Prozess durchführen, wie das MYRIAD-Programm und andere es sich vorstellen, praktisch durch das ‚Verteilen‘ von Achtsamkeit von oben herab, als klassische Verhaltensprävention.

Danke für das Gespräch!

Prof. Dr. Stefan Schmidt hat seit 2018 eine Stiftungsprofessur für Systemische Familientherapie an der Medizinischen Fakultät, Universität Freiburg, inne. Er hat 2002 in Freiburg in Psychophysiologie promoviert, war Stiftungsprofessor an der University for the Humanities in Utrecht und Juniorprofessor für Transkulturelle Gesundheitswissenschaften an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Seine Forschungsschwerpunkte sind Achtsamkeit und Gesundheit, Meditationsforschung, Komplementärmedizin und Forschungsmethodik. Mehr auf seiner Seite.

Hier kommen Sie auf die Seite des MYRIAD Projektes.

Ein Artikel auf dem Deutschen Schulportal bietet weitere Hinweise und Erkenntnisse zur Studien und zu weiteren Studien wie die zu AiSCHU und MAIDS. Hier lesen.

Die MYRIAD-Studie

Achtsamkeit – Möglichkeiten und Grenzen der Forschung

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  • Prof. Stefan Schmidt: privat