Wir haben kein Auto, ernähren uns vegetarisch, und können uns leisten, einen Großteil unseres täglichen Bedarfes bio, fair und regional einzukaufen. Seit unsere Kinder auf der Welt sind (bald 27 Jahre lang), sind wir nur einmal in ein Flugzeug gestiegen. Nun nutzen unsere groß gewordenen Kinder das gefühlte Ende der Pandemie und ihr Zeitfenster, um sich in den Flieger zu setzen und die Welt kennenzulernen. Wohl wissend, dass wir am ökologischen Abgrund stehen.
Meine Gefühle waren und sind zwiespältig. Nicht nur weil es mir als Papa schwergefallen ist, sie alleine so weit ziehen zu lassen, sondern auch im Wissen um die Ambivalenz dieses verständlichen Wunsches der jungen Menschen. Ich hatte ja in ihrem Alter auch Gelegenheit, ferne Länder kennenzulernen.
Im Gegensatz zu mir vor über 30 Jahren, ist meinen Kindern aber bewusst, welch verheerende CO2-Bilanz solche interkontinentalen Flüge haben, und dass wir „uns das eigentlich nicht mehr leisten können“, wenn wir es ernst meinen mit Klimaschutz. Sie setzen sich mit den Krisen unserer Zeit auseinander, und auch wir waren mehrmals zusammen auf den Fridays for Future–Demos.
Das Recht der Jungen?
Ich tröste mich damit, dass vielleicht die Jungen das noch dürfen, wir „Älteren“ aber sicher nicht mehr. Als ich kürzlich auf einer Zugfahrt einen Kanadier und einen Libanesen miteinander im Gespräch hörte, die noch ein paar Jahre älter waren als ich, war es für mich schwer zu verstehen, wie man über all die Reisen plaudern konnte, die man schon getan, und die man noch tun möchte…
Nun waren sie in Europa, „next I wanna go to Peru“, meinte der Kanadier. Hat er das Recht dazu, sein Leben lang durch die Welt zu fliegen? Hab ich das Recht, ihn dafür in Frage zu stellen, ja mich zu ärgern – so wie ich mich manchmal über den Nachbarn ärgere, der mit seinem SUV die Brötchen im Ort holt?
In meinem Umfeld werden die Stimmen lauter, sich den radikaleren Protesten anzuschließen. Die einen kleben sich auf die Straße, während die anderen weiterhin munter ins Flugzeug steigen – die Welt ist kompliziert geworden.
Unsere Kinder setzen sich hellwach mit der Welt auseinander, lesen Bücher, schauen Dokus, und müssen zugleich schauen, dass ihnen die Krisen und Ängste nicht über den Kopf wachsen; gleichzeitig haben sie auch nur ein Leben und wollen ihre Chancen nützen. Und natürlich ist es richtig, die Verantwortung für die wirklich entscheidenden Stellschrauben der Politik anzuheften, aber es ist natürlich auch ein bequemes Argument.
Wir dürfen und müssen die strukturellen und systemischen Ursachen einer Welt aus dem Gleichgewicht benennen und gegen sie aufstehen. Gleichzeitig braucht es einen nüchternen Blick auf unser Innenleben, unsere Zwänge sowie unser Potenzial, uns von ihnen zu lösen, und es braucht Schritte in einen viel nachhaltigeren Lebensstil.
Die Weisen kennen keinen erhobenen Zeigefinger
Doch anstatt Erziehung oder Moralpredigt dürfen wir „Alten“ selbst aufbrechen, unseren Kindern Vorbilder zu sein. Manche radikalisieren sich, und setzen auf spektakuläre Aktionen wie die von Extinction Rebellion oder der „Letzten Generation“. Ich verstehe den Unmut über fehlende Entscheidungen auf politischer Ebene zu längst überfälligen Weichenstellungen. Ich teile die Anliegen von Greta Thunberg und aller, die laut geworden sind, um der Welt klarzumachen, was auf dem Spiel steht.
Dennoch haben mich die Prophetinnen und Propheten der Menschheitsgeschichte am meisten bewegt, die in erster Linie ihr eigenes Leben radikal hingegeben und ihre Botschaft vorgelebt haben: Mahatma Gandhi, Etty Hillesum, Rosa Luxemburg, Franz von Assisi, Jesus.
In der biblischen Geschichte von der Begegnung Jesu mit dem reichen Steuereintreiber und Zollpächter Zachäus gibt dieser sein halbes Vermögen den Armen und erstattet das, was er zu Unrecht genommen hatte, vierfach zurück. Doch Jesus hielt ihm keine Moralpredigt, gab ihm keinen dezenten Hinweis, dass er doch genug hätte und ein bisschen was an die Armen abgeben könnte.
Jesus forderte ihn zu gar nichts auf. Kein Wort über seinen Beruf, seine Kollaboration mit der römischen Besatzungsmacht, seinen Wohlstand auf Kosten der Armen. Alles, was Jesus tut, ist ihm ohne Urteil zu begegnen und sich ganz zuzuwenden. Hinter den Machenschaften und Verstrickungen eines Zöllners sieht er den kleinen Menschen mit der großen Sehnsucht.
Die Weisen kennen keinen erhobenen Zeigefinger. Ihre Kraft liegt in der inneren Freiheit, zu der sie vorgedrungen sind. Der reiche Zöllner – Sinnbild unserer eigenen Verstrickungen in einer globalisierten Welt, wo wir die Reichen sind – wird nicht bekehrt, sondern „gerettet“, wie es heißt. Er wird frei, sich zu lösen von dem, was ihn innerlich und die Welt äußerlich in Not bringt.
Reich ist, wer wenig braucht
Unsere spirituellen Traditionen werden auch die künftigen Generationen brauchen, um sich nicht an trügerischen Sicherheiten festzuhalten, aber auch nicht an den Krisen zu verzweifeln, nicht auf Angstmache, Hetze und Stigmatisierung von Sündenböcken hereinzufallen, sondern immer wieder loszulassen, sich tiefer gehalten zu wissen, und sich hinzugeben. „Einfach werden wie der fallende Regen und das wachsende Korn“, nannte es die jüdische Mystikerin Etty Hillesum in tiefster Bedrängnis im Holocaust. „Nichts mehr haben, an dem irgendetwas festkleben kann“, beschreibt es der buddhistische Abt und Bestseller-Autor Ajahn Brahm im Blick auf unsere heutige Welt.
Schon der berühmte antike Philosoph Diogenes war damit zufrieden, in einem Fass zu wohnen, und er erlebte, was viele erleben, die die gesellschaftlichen Werte gegen den Strich bürsten: Allein es anders zu machen, provoziert die Etablierten und Angepassten:
Diogenes aß zum Abendbrot Linsen. Das sah der Philosoph Aristippos, der ein angenehmes Leben führte, indem er dem König schmeichelte. – Sagte Aristippos: „Wenn du lerntest, dem König gegenüber unterwürfig zu sein, müsstest du nicht von solchem Abfall wie Linsen leben.“- Sagte Diogenes: „Wenn du gelernt hättest, mit Linsen auszukommen, brauchtest du nicht dem König zu schmeicheln.“
Machen wir es wie Diogenes, drehen wir den Spieß um! Öffnen wir uns für die Erfahrung, dass Genügsamkeit kein Mangel ist. Genügsamkeit ist Freiheit. Dann geht es nicht um Verzicht, sondern um Fülle. Reich ist nicht, wer viel hat, sondern wer wenig braucht.
Freiheit und Genügsamkeit
Wenn ich wieder auf meine Kinder schaue, bin ich dankbar, Aspekte dieser Freiheit und Genügsamkeit auch in ihrem Leben zu finden. Anstatt Markenkleidung darf es auch mal was vom Flohmarkt oder Second-Hand-Shop sein. Das fehlende Familienauto hat sie daran gewöhnt, die öffentlichen Verkehrsmittel zu nützen, oder auch mal eine Strecke zu Fuß zu gehen, anstatt ständig von einer Aktivität zur nächsten chauffiert werden zu müssen.
Ich staune und freue mich an meiner jüngsten Tochter, die kürzlich wieder die Erfahrung machte, wie wohltuend Zeiten ohne ihr Smartphone sind, als sie wochenlang auf ein neues Display für ihr Handy warten musste, ja sich überhaupt darauf einlassen konnte, nicht sofort ein neues zu kaufen. Hier war auch der in Österreich eingeführte Reparatur-Bonus ein Argument gegen die immer zu hörende Devise: „Für das Geld kannst du dir gleich ein Neues kaufen!“
Auch bei meiner älteren Tochter freue ich mich über ihre Freiheit, mit einem Rucksack in die Welt zu ziehen, der nur dem Nötigsten Platz bietet, selbst wenn sie über Monate damit zurechtkommen muss. So viel können wir dann doch nicht falsch gemacht haben…
Ein nachhaltiges Leben wird einen schonungslosen Blick auf die Zwänge unserer Kultur und die Verantwortung der Politiker*innen brauchen. Und einen Zugang zu innerem Reichtum und Freiheit im eigenen Herzen. Die Tiefenströmung der spirituellen Traditionen erinnert uns an Befreiung und Heil, das von innen nach außen wirkt; das nie nur individuelles Glück bedeutet, sondern nachhaltig, mitfühlend und engagiert Schöpfung und Welt umschließt. Daran dürfen wir arbeiten, dafür dürfen wir Raum schaffen, und unser Licht wird im Dunkel der Krisen leuchten.
Steve Heitzer
„Wissen und Technologien sind da, es braucht einen Bewusstseinswandel“
Steve Heitzer ist Montessoripädagoge und besuchte Fortbildungen bei Rebecca Wild, Jesper Juul u.a. Er ist Theologe, Achtsamkeitslehrer und arbeitet seit 20 Jahren mit Kindern. Steve lebt in Innsbruck und gibt Kurse, Fortbildungen und hält Vorträge zur verschiedenen pädagogischen Themen, berät Eltern im Coaching und arbeitet zum Thema Achtsamkeit und Spiritualität. Hier kommen Sie zu seiner Seite.
Sein Buch "Kinder sind nichts für Feiglinge. Ein Übungsweg der Achtsamkeit" erschien 2016 im Arbor Verlag. Mehr Infos zum Buch finden Sie hier.