Schüchternes Kind

Schüchterne Kinder achtsam begleiten  

Schüchternheit wird schnell mit einem „Stell dich nicht so an!“ abgetan. Expertin Inke Hummel ist es wichtig, für die Bedürfnisse von schüchternen Kindern zu sensibilisieren und beschreibt hier, wie dies im trubeligen Kitaalltag gelingen kann.

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Warum sollte man über schüchterne Kinder in der Kita reden? Sind die nicht unauffällig und damit eher keine Herausforderung für die erwachsene Begleitung? Für die Unterstützung und im Vergleich zu wilden Kindern stimmt das sicherlich. Aber nur weil sie oft nicht anstrengend und enthemmt zeigen, was sie brauchen, heißt das nicht, dass sie immer alles bekommen, was wichtig für sie ist.

Schüchternheit sieht man leider niemandem direkt an, und wenn sie doch deutlich wird, wird sie oft schnell mit „Stell dich nicht so an!“ quittiert und weggewischt. Wenn ein Kitakind hingegen nur ein Bein hätte – eine sichtbare Herausforderung also, dann wäre sehr klar, dass bei einem Ausflug oder auch sonst im Alltag Rücksicht genommen werden müsste. Und wenn ein Kitakind kaum Deutsch spräche, wären die Erwachsenen verständnisvoll, falls es im Stuhlkreis wenig beitrüge.

Was ist Schüchternheit?

Schüchterne Kinder liegen irgendwo dazwischen: Sie bringen körperliche Veranlagungen mit (wie zum Beispiel in der Wahrnehmung und Reizverarbeitung), die ihnen die Teilnahme am Kitaalltag erschweren können. Und im jungen Alter zeigen sie auf jeden Fall noch mangelnde Fähigkeiten bzw. fehlende Strategien im Umgang mit ihrem eigenen Wesen, die nur mit Übung und guter Begleitung verbessert werden können.

Das ist die Ursache dafür, dass sie beispielsweise ihre Eltern im Rahmen der Eingewöhnung häufig schwerer loslassen können als andere. Auch im Kitaalltag kommen sie oft morgens weniger leicht in der Gruppe an. Das ist oft auch die Ursache dafür, dass sie in der Gruppe wenig sprechen, viel allein spielen und allgemein weniger Austausch mit Gleichaltrigen suchen usw.

Wenn die Schüchternheit angeboren ist, bedeutet es, dass die Kinder sehr vorsichtig sind, sensibel wahrnehmen und ihr Alarmsystem schneller anspringt. Das bringt eine höhere Ängstlichkeit mit sich. Auch verfällt ein Kind in ungewohnten oder fordernden Situationen schneller in Stress als andere. So tickt ein schüchternes Gehirn.

Daneben gibt es angelerntes schüchternes Verhalten, beispielsweise durch Überforderung nach einem Umzug, einer Trennung der Eltern oder anderen Krisen. Auch ein sehr übergriffiger Erziehungsstil kann zu Schüchternheit führen.

„Das sieht mir ja fast autistisch aus!“

Unabhängig davon, woher die Zurückhaltung und Sensibilität rühren, benötigen diese Kinder Rücksichtnahme, Verständnis, Zeit und Zugewandheit, um mit den Herausforderungen des Lebens nach und nach zurechtzukommen. Auf diese Weise können sie Strategien finden, um ihren Weg recht stressfrei zu gehen.

In der Kita bedeutet das, dass man schon bei der Eingewöhnung besondere Rücksicht auf diese Kinder haben sollte und dass man sie im weiteren Verlauf im Alltag nicht übersehen oder „falsch“ sehen darf.

Zu häufig landen Erzieher und Erzieherinnen bei einem „Jetzt haben wir schon drei Monate Rücksicht genommen – jetzt muss es auch mal gut sein!“ oder bei „Dieses ewige Alleinspielen ist echt nicht normal!“ Zu rasch werden oft zwischen Tür und Angel Laiendiagnosen ausgesprochen: „Die Eltern-Kind-Bindung ist ungesund eng!“ oder „Das sieht mir ja fast autistisch aus!“

Kinder und Eltern werden so (ungewollt) verunsichert, beschämt und häufig überfordert. All diese Aussagen sind pauschal gar nicht so zu treffen und oft falsch. Darum ist es so wichtig, für die Bedürfnisse von schüchternen Kindern zu sensibilisieren.

Achtsamer Umgang: Kinder nicht bewerten

Grundsätzlich sollten schüchterne Kinder (und alle anderen auch) in ihrem Wesen ernstgenommen und niemals ausgelacht und beschämt werden. Wir Erwachsenen sollten uns bemühen, das Verhalten der Kinder nicht ständig zu kommentieren, zu bewerten oder gar abzuwerten und die Kinder verändern zu wollen. Auch Geschlechterklischees haben hier im Übrigen keinen Platz: Schüchternheit bei Jungs ist nichts anderes als Schüchternheit bei Mädchen!

Schüchterne Kinder geht es nicht zwangsläufig schlecht damit. Nur weil jemand meint, „Das macht man aber so nicht!“, heißt das nicht, dass die Kinder durch ihre Schüchternheit beeinträchtigt sind.

„Normal“ bzw. „in der Entwicklung und Reifung unbedenklich“ ist ein viel weiteres Feld als wir so oft denken. Wir sollten die schüchternen Kinder unbedingt spüren lassen, dass wir sie so schätzen, wie sie sind. Wir können ihnen zeigen wie sie immer selbständiger mit ihrer Schüchternheit umgehen können, ihnen Perspektiven aufzeigen für Selbstakzeptanz und Selbstliebe.

Auch dürfen wir ihnen helfen zu sehen, dass Schüchternheit auch Vorteile hat und dass sie noch viel, viel mehr sind als nur schüchtern. Ein schüchternes Kind ist vielleicht auch eine tolle Malerin oder ein großartiger Kümmerer. Und es ist vielleicht oft gar nicht traurig allein, sondern glücklich unabhängig, hat Pläne und Spaß und gar kein Interesse an diversen Kindergeburtstagseinladungen.

Kinder schrittweise ermutigen

Des Weiteren ist es wichtig, eine gute Balance zu finden und zu unterscheiden zwischen Fördern und Überfordern: Erwachsene helfen schüchternen Kindern nicht, indem sie ihnen ständig alles abnehmen. Aber ebenso wenig unterstützt es sie, wenn sie ständig gezwungen werden, vehement gegen ihre ängstlichen Gefühle anzugehen. Sie benötigen stattdessen langsames, schrittweises Ermutigen und helfendes, zugewandtes Zumuten.

Im Kitaalltag ist das nicht immer leicht. Zu viele Kinder treffen auf zu wenige Betreuungspersonen. Abläufe müssen vonstatten gehen, bei denen es schwierig ist, auf die Bedürfnisse einzelner Kinder Rücksicht zu nehmen.

Und doch gibt es Raum für Schüchternheit:

  • Man kann die Eingewöhnungen flexibler gestalten.
  • Man kann spezielle Rückzugsmöglichkeiten im Kitaalltag schaffen.
  • Man kann versuchen, schüchternen Kindern bestimmte Herausforderungen nicht zuzumuten.
  • Eltern müssen nicht in jedem Entwicklungsbericht hören, was unbedingt zu ändern ist, um zum 08/15-schulreifen Kind zu werden.

Schritt für Schritt können diese Kinder dahin begleitet werden, sich selbst in ihrem Wesen anzunehmen, mit der Welt zurechtzukommen und ihre Ziele zu erreichen.

Und diese Ziele dürfen individuell verschieden sein: Auch Schüchterne mögen vielleicht irgendwann umjubelt und laut auf der Bühne stehen, und andere werden glücklich mit nur einem Freund und einem recht leisen Leben. Beides ist okay.

Inke Hummel

2021 erschien Inke Hummels Buch „Mein wunderbares schüchternes Kind“  im humboldt Verlag.

Vom Glück der Absichtslosigkeit

Inke Hummel ist pädagogische Beraterin bei sAchtsam Hummel und Autorin für Kinderbücher und Erziehungsratgeber. Im Verein „Bindungs(t)räume“ setzt sie sich dafür ein, dass Eltern und Pädagog*innen die Bedürfnisse von Kindern besser verstehen. Ihre neuesten Bücher: „Mein wunderbares wildes Kind“ (2021), „Nicht zu streng, nicht zu eng“ (2022, SPIEGEL-Bestseller) - beide bei humboldt erschienen.

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