Schule – ein Ort für Beziehungsgestaltung

Christine Ordnung ist Familientherapeutin und hat mit Helle Jensen zusammen das Schulmodell „Empathie macht Schule“ in drei Berliner Grundschulen gebracht. Im Gespräch erzählt sie, welche Bedeutung Empathie, Perspektivwechsel und Beziehungsarbeit für den Schulalltag haben.

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Das Gespräch führte Mona Kino.

Die meisten Menschen haben schon von Beziehungsarbeit gehört, verbinden das aber eher mit Partnerschaften. Worum genau geht es bei Beziehungsarbeit in der Schule?

Christine Ordnung: Es ist nicht so, dass das Wort Beziehung oder Beziehungsarbeit in der Pädagogik fremd ist. Nur die Gewichtung liegt nach wie vor 2/3 auf der Vermittlung, wie Aufgaben erklären, Aufgaben lösen, die Lernleistung zu erbringen. Die Beziehung kommt dann irgendwann viel später. Ich denke, wir müssen es umgekehrt machen. 2/3 der Zeit Beziehungsarbeit machen. Immer wieder in sich hinein hören: „Wer bin ich?“, „Wer bist du?“, „Was ist dir wichtig?“, „Was ist mir wichtig?“

Sich im Miteinander und im Spielen erleben, im Miteinander tätig sein. Dann stimmt die Basis. Und dann 1/3 Vermittlung und Lernen, was beides dann wahrscheinlich viel leichter ginge. Man müsste nicht explizit sagen, wir müssen binnendifferenziert arbeiten. Es wäre dann selbstverständlich, dass jede Erwachsenen-Kind-Konstellation etwas Eigenes verlangt, aber auch was Eigenes in sich birgt und an Gewinn mit sich bringt.

Sich im Miteinander und im Spielen erleben. Dann stimmt die Basis.

Woran liegt es, dass die Vernachlässigung der Beziehungsarbeit im Schulkontext stattfindet?

Ordnung: Die meisten, die in der Schule unterrichten, reproduzieren etwas, das sie in der Schule erlebt haben und was sie denken, wie Schule geht. Und sie begegnen dann Kindern, die mit ihrer ganzen Beziehungskompetenz kommen, die sie als  soziale Wesen mitbringen. Die stellen sie dann in Reih und Glied, und sie sollen lernen zu funktionieren, so wie es die Lehrer*innen selbst als Kinder meist noch erlebt haben.

Dazu gehört dieses Stillsitzen, Zuhören, Aufgaben erfüllen. Aber das sind Disziplinen, die im Grunde nur notwendig sind, weil wir Lernen auf so eine komische Art und Weise unterrichten. Manche Soziologen sagen, dass Schule nach wie vor ein Selektionsinstrument ist. Sie verweisen dabei auf die industrielle Revolution, wo klar war, dass Menschen geformt werden müssen, die Aufgaben erfüllen, die im Gleichschritt funktionieren. Warum wir heute daran immer noch so festhalten oder nur minimal davon abweichen, ist mir nicht wirklich verständlich.

Hätten wir die Chance, dass Beziehungsarbeit im Vordergrund steht, würde eine andere Lebendigkeit in der Schule stattfinden. Daniel Greenberg, von der demokratischen  Sudbury-Valley-School in Massachusetts hat ja auch schon gesagt: „Beim Angeln kann man alles lernen, was man fürs Leben braucht.“

Und wie vermittelt man jemandem, wie Beziehungen gut funktionieren?

Ordnung: Ein Beispiel ist von einem Schulhelfer, der beim dem Schulprojekt von Helle Jensen schon einige Module mitgemacht hatte. Er hatte mit einem Jungen der zweiten Klasse in einem Einzelsetting gearbeitet, da der Junge immer mal wieder aus dem Klassenverband raus musste, weil es ihm im Klassenzimmer zu viel wurde dem Unterricht zu folgen.

Nach etwa zehn Minuten hatten sie dann eine Aufgabe gelöst und der Schulhelfer hat am Schluss zu dem Jungen gesagt: „Die Aufgabe hast du gut gelöst!“ Und was macht der Junge? Er piekst dem Schulhelfer seinen Bleistift in den Oberschenkel. Der Schulhelfer hat mich dann gefragt: „Was ist denn da bei dem Jungen passiert?“

Ich habe ihm geantwortet: „Na ja, ich glaube, dass der Junge dieses Zusammensein mit dir sehr genossen hat. Die Beziehung, das Miteinander mit euch hat gestimmt.“ Und er hatte aber nur die Leistungen von dem Jungen gelobt. Kinder, wie dieser Junge, haben sehr feine Antennen und verfügen oft auch über eine höhere Empfindsamkeit als andere Kinder. Und diese Kinder sind dann sehr verletzt, wenn nur seine Leistung bewertet wird und nicht das Zusammensein für den Erwachsenen Bedeutung hat. So ein Kind müsste hören: „Das war ein schönes Erlebnis  für mich, mit dir hier zusammen zu arbeiten.“

Beziehungsarbeit bedeutet also: Nicht nur die erreichten Ziele zu den Inhalten zu kommentieren, sondern auch die zwischenmenschlichen Ebene …

Ordnung: Jesper Juul hat das in zwei Bereiche aufgeteilt: Selbstgefühl und Selbstvertrauen. Selbstvertrauen bedeutet, auf mein Können, auf meine Fähigkeiten, auf meine Leistung zu vertrauen. Selbstgefühl bedeutet, mich fühlen, mit mir selbst in Verbindung sein, mich kennenlernen. Wie bin ich, wie erlebe ich mich und wie verhalte ich mich dazu.

Anstatt sich dem zu widmen, was bei einem Schüler gerade an innerer Basis fehlt, versuchen Lehrkräfte das Selbstgefühl mit Lob zu füllen.

Mit einem ausreichenden Selbstgefühl habe ich einen guten inneren Halt und damit eine Basis, die mir lernen ermöglicht und mit der ich mir Fertigkeiten und Fähigkeiten aneignen kann. Gute Leistungen und Erfolge können das Selbstgefühl nur in geringem Maße nähren.  Was wirklich nährt, ist gesehen werden: „Ja, ich sehe dich und ich kann sehen, was du machst. Ich erkenne an, dass du dich gerade so fühlst, wie du dich gerade fühlst.“

Das gibt dem Gegenüber das Gefühl wahrgenommen und gemeint zu sein. Und in der Schule fehlt oft genau das. Anstatt sich dem zu widmen, was da gerade so an innerer Resonanz fehlt, an innerer Basis, eigenem Fundament, versuchen Lehrkräfte das Selbstgefühl mit Lob und Kritik zu füllen, oder sie verpacken den Lernstoff in ganz kleine Häppchen, um dem Kind damit zu helfen.

Wie wäre dann so eine Frage an ein Kind, wenn das die kleinen Häppchen nicht nimmt?

Ordnung: Ich frage nicht, ich gebe dem Worte, was ich gerade sehe oder was gerade passiert. Worte die keine Absicht und keine Intention haben, mich und die Schüler*innen sofort woanders hinzubringen. Ich sage dann: „Im Moment geht Lernen gar nicht. Im Moment kannst Du mit der Aufgabe, die ich dir angeboten habe, überhaupt nichts anfangen.“ Und dann kommt manchmal ein: „Ja, die Aufgabe ist blöd, ich kann dir zeigen wie super ich Tore schieße.“ Und dann muss man antworten: „Ja, dass das glaube ich dir gerne. Aber jetzt im Moment ist es gerade ganz schwierig.“

Was ich meine ist, dass ich dann nicht von dem Moment wegdenke, in dem ich gerade bin. Nicht zu sagen: „Jetzt zeige ich dir noch mal, dass du es in Ruhe kannst, und da diesen Schritt machen kannst.“ Sondern keinen Schritt tun, nicht irgendwohin wollen, da bleiben. Beziehung braucht den Moment, das Hier und Jetzt. Und wenn ich da gut angekommen bin, dann kann ich den nächsten Schritt tun. Dieses Ankommen dauert manchmal, kann aber auch in wenigen Sekunden gehen. Viele Kinder sind da mit einer hohen Flexibilität ausgerüstet. Und es gibt Kinder, die sind da nicht so gut ausgerüstet.

Wie drückt es sich aus, wenn jemand wenig Selbstgefühl hat?

Ordnung: Jemand mit zu wenig Selbstgefühl läuft entweder in zu kleinen Kleidungsstücken herum und sagt meistens: “Ich kann das sowieso nicht.“, obwohl das keinen Bezug zu dem hat, was tatsächlich passiert und geht. Oder sie laufen in viel zu großen Anzügen oder Prachtgewändern herum, die sie nicht ausfüllen. Die zum Teil einen kleinen Macker spielen müssen oder sich mit einer Aura von Arroganz umgeben – oder einer Ist-mir-doch-alles-egal-Haltung, die aber genauso wenig Bezug zur Realität hat. Beiden fehlt die innere Instanz, die einem die Sicherheit gibt zu sagen: „Das traue ich mir nicht zu.“ oder: „Da bin ich unsicher.“

Und wie gehe ich als Lehrkraft mit so einer Person um?

Ordnung: Wenn ich diesen Menschen begegne, ist es wichtig, dass ich gut bei mir bin und mich nicht umschmeißen lasse von diesem „Ich kann alles“. Aber in übermäßiges Mitgefühl zu verfallen, hilft auch nicht, wenn jemand sagt „Ich kann doch gar nichts.“ Diesen beiden Unsicherheiten, die sich auf unterschiedliche Art zeigen, zu begegnen, bedarf, dass ich gut bei mir bin, also dass ich selbst mit meiner inneren Instanz gut in Verbindung bin.

Ich möchte Pädagog*innen ermutigen, sich zu erlauben, wieder mit den eigenen inneren Werten in Verbindung zu kommen.

Haben Sie Anregungen für Lehrkräfte, die angesichts der neuen Pisa Ergebnisse Angst davor haben, dass sie mit der Beziehungsarbeit noch mehr Verantwortung für die Schüler*innen übernehmen müssen? Was würden Sie denen raten? Die Eltern dafür verantwortlich zu machen, ist sicherlich auch nicht hilfreich?

Ordnung: Ja, wenn ich die Eltern dafür verantwortlich mache, dann schaffe ich ja noch eine Baustelle, die über die Schule hinausgeht und lande eigentlich nur in Vorhaltungen oder in Schuldzuweisungen. Wir nennen es zwar Verantwortung, aber eigentlich ist es Schuldzuweisung.

Ich möchte Pädagog*innen gern ermutigen, nicht in die Knie zu gehen, wegen dieser PISA Studie und sich stattdessen zu erlauben, wieder mit den eigenen inneren Werten in Verbindung zu kommen. Was hat mich zu dem Beruf gebracht? Sich selbst wieder kennenzulernen. Sich jeden Tag immer wieder neu der Beziehungsgestaltung zu widmen. Dass sie die Zutaten in die Beziehung reingeben, die sie selbst als Qualität haben wollen. Und das ihnen das manchmal besser und manchmal schlechter gelingt. Da kann ich sagen: „Gestern wollte ich eigentlich in Ruhe mit dir reden und dann wurde ich laut. Dann habe ich die Geduld verloren und habe dich tatsächlich angeschrien. Das hätte ich lieber nicht getan, aber so war ich gestern.“

Auf der Lernplattform des AVE Instituts gibt es einen Online-Selbstlernkurs von Ihnen und Helle Jensen, bei dem man die Inhalte eurer Arbeit vertiefen kann. Dabei ist mir eine der Überschriften aufgefallen: „Das dramatische Erlebnis des Perspektivwechsels“. Weshalb dramatisch?

Ordnung: Dieses Wort hat mal ein Pädagoge benutzt, der in einer Gruppe war, in der ich das Spiel mit 20 Tennisbällen angeboten habe. Diese Tennisbälle bilden ein Muster auf dem Boden und wenn wir im Kreis darum herumsitzen, dann hat jede Person einen anderen Blick auf dieses Ballmuster. Dann will ich wissen: Wie habt ihr euch die Lage der Bälle eingeprägt? Die einen merken sich geometrische Formen, andere sehen Geraden und Bögen oder vielleicht Sternbilder. Wenn jemand sagt: „Da hinten ist ein Dreieck.“, dann frage ich nach: „Welche Bälle meinst du genau?“, weil mir wichtig ist, deutlich zu machen, von dieser Perspektive aus ist ein Dreieck da hinten ganz selbstverständlich. Von einem anderen Platz aus vielleicht nicht.

Danach wechseln alle die Plätze und sehen ihr Ballmuster jetzt von einem anderen Ort aus. Der Pädagoge sagte dann, dass er dachte, dass er eine sehr klare Vorstellung davon hat, wie es von der anderen Seite aussieht. Und jetzt merkte er, wie dramatisch anders es ist. Und das stimmt ja, weil ich nicht die Chance habe, durch die Augen eines anderen zu gucken. Ich habe nicht mal die Chance, von seinem Platz aus zu gucken. Ich kann versuchen, so gut wie möglich zu verstehen und dennoch bleibt da immer diese große Diskrepanz. Für dich sieht es 100 % anders aus als für mich. Das ist dramatisch und manchmal hat es dramatische Folgen, wenn ich mir das nicht immer wieder in Erinnerung rufe.

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Christine Ordnung ist Familientherapeutin und Leiterin des von ihr gegründeten Deutsch-Dänischen Institut für Familienberatung (DDIF) in Berlin. Mit Helle Jensen zusammen hat sie das Schulmodell Empathie macht Schule in drei Berliner Grundschulen gebracht. Das gesamte Schulpersonal wird dabei in sechs intensiven dreitägigen Modulen unter anderem in Beziehungsarbeit fortgebildet.

 

Beziehungen aktiv gestalten – Online-Kurs für Pädagog*innen

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  • Beziehungsgestaltung in der Schule: Adam Winger / unsplash
  • Christine Ordnung: privat