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Unterstützt Achtsamkeit dysfunkionale Systeme?

Ist Achtsamkeit Basis von umweltfreundlichem Verhalten und Engagement oder Unterstützung eines dysfunktionalen Systems? – Eine kritische Betrachtung von Susanne Krämer, Zentrum für Lehrer*innenbildung und Schulforschung der Universität Leipzig.

PORTAL FÜR ACHTSAMKEIT IN DER PÄDAGOGIK

Seit Achtsamkeit Einzug in immer mehr Schulen, Unternehmen bis hin zur US-Army (Myers 2018) gefunden hat, ist auch die Kritik an den neu entstandenen säkularen Achtsamkeitsprogrammen gewachsen. Die entkontextualisierte Achtsamkeit verlagere Schieflagen unserer Gesellschaft in eine rein individuelle Verantwortung.

Sie stütze das neoliberale System, indem achtsamkeitsbasierte Interventionen „Individuen therapeutisch optimieren, um sie mental fit, aufmerksam und belastbar machen, damit sie weiterhin innerhalb des Systems funktionieren“ (Purser 2021, S. 16).

So würde z.B. Stress nicht als Anzeichen eines kranken Systems gesehen, sondern dem Individuum ein falscher Umgang mit dem Stress attestiert. Diese Kritik ist essentiell wichtig, um sowohl die Inhalte der Programme, als auch die Ausrichtung der vermittelnden Personen immer wieder zu reflektieren und zu hinterfragen.

Seit der weltweiten Verbreitung von MBSR in den 1970er Jahren ist einerseits eine Anpassung an kapitalistische Gesellschaftsmuster und der Wellness-Branche in Form von Kurzinterventionen zur Erhöhung der eigenen Produktivität (s.a. Krämer 2019, S. 29) zu beobachten.

Mehr Empathie in der Achtsamkeit

Andererseits ist als Gegenbewegung hierzu eine Re-Integration des ethischen Rahmens entstanden. Dies drückt sich u.a. dadurch aus, das die Dimensionen Empathie und Mitgefühl vermehrt einbezogen werden. Das hat zu ergänzenden Formaten wie MSC (Mindful Self Compassion) oder MBCL (Mindfulness Based Compassion Living) geführt.

In jüngerer Zeit kann man außerdem beobachten, dass auch das Thema der Nachhaltigkeit im Sinne der „Sustainable Development Goals“ (SDGs/ Zielen für nachhaltige Entwicklung) in immer mehr Programmen auftaucht und damit zur Übernahme von gesellschaftlicher Verantwortung einlädt.

Was verbindet Achtsamkeit mit prosozialen und umweltbewussten Verhalten?

Ein Aspekt ist die Rückbesinnung, dass der „homo sapiens“ sich zwar als „homo oeconomicus“ betiteln kann, aber dennoch immer untrennbarer Teil der Natur bleibt. Insbesondere die achtsame Haltung in der Natur zu kultivieren (s.a. Huppertz & Schatanek 2021), kann uns immer wieder das Empfinden zurückgeben, dass wir nicht getrennt von unserer Mit- und Umwelt sind. Wir sind Teil eines sich wechselseitig beeinflussenden Lebensnetzes.

Das Bewusstsein über diese Interdependenz oder das „Intersein“ (eine Begrifflichkeit, die der buddhistische Zen-Meister Thich Nath Hanh geprägt hat), lässt uns diese tiefe Verbundenheit erkennen. Wir erkennen, dass ein sich kümmern um uns selbst immer auch die Mit- und Umwelt einbeziehen muss.

Betrachten wir uns nicht als getrennte Entität, ist prosoziales und umweltbewusstes Verhalten eine Selbstverständlichkeit. Selbstfürsorge in Hinblick auf uns als Teil des Systems ist der Ausgangspunkt für kraftvolles Handeln.

Die Lehrerin und Entwicklerin des Polly-Ananda-Programms, Nanine Schulz, beschreibt dies so: „Wenn Achtsamkeit dazu beiträgt, dass wir kraftvoll und voller Energie bleiben können, haben wir die Möglichkeit, uns für unsere Rechte und die der Kinder an der Schule gezielt einzusetzen.“ (in Krämer 2019, S. 31).

Hinwendung statt Ohnmacht

Hinzu kommt, als weiterer Aspekt der Haltung der Achtsamkeit, Selbstregulation entwickeln zu können (u.a. Rupprecht 2014). Diese Fähigkeit erleichtert es, sich dem Ausmaß der Umweltzerstörung, des Klimawandels, Massenartensterbens und des immensen menschlichen Leides in der Welt zu stellen.

In unserer Kultur, die das individuelle Glück als Ziel definiert und dieses mit dem Streben nach kurzfristigen, angenehmen Erleben gleichsetzt, ist die Fähigkeit sich Leiden zuzuwenden, nicht ausreichend entwickelt. So führt das als Klimaangst oder Klimatrauer benannte psychologische Phänomen (Climate anxiety/ Climate grief) zu überwältigenden Gefühlen der Verzweiflung und Ohnmacht. Diese können so existenziell sein, dass wir nicht handeln sondern „erstarren“.

In einer Studie, in der über 10 000 Kinder und Jugendliche aus 10 Ländern befragt wurden, gaben 75% an, dass sie die Zukunft als beängstigend empfinden (Cunsolo 2021 et.al.) Sind diese Gefühle zu überwältigend und nicht mit der Hoffnung einer möglichen Veränderung gepaart, fühlen wir uns ohnmächtig und werden depressiv.

Als stimmiger Schutzmechanismus weichen viele in den Modus der Verdrängung oder Verleugnung aus. Wir ziehen uns zurück in die private, scheinbar „heile“ Sphäre, die uns Schutz vor den überwältigenden Gefühlen zu bieten scheint. Beide Mechanismen verhindern aber die notwendigen systemischen Feedbackschleifen.

Mit Achtsamkeit in die Transformation kommen

Erst wenn wir die Bedrohung unserer Lebensgrundlage emotional wahrnehmen, kann sich transformatorische Kraft entwickeln und die Bereitschaft für die notwendigen radikalen Veränderungen von Gesellschaft und Lebensstil.

Die Achtsamkeit kann zum Schlüssel werden, sich dem kaum aushaltbaren Leid zuzuwenden. Dies geschieht dadurch, dass wir die Zustände einerseits nicht-wertend wahrnehmen und annehmen. Gleichzeitig unterstützt uns die achtsame Haltung dabei, die aufkommenden, schwierigen Gefühle innerlich zu halten. Dies bietet Wege aus dem Rückzug und gibt die Energie zur bewussten Gestaltung unserer Umwelt.

„Ich habe den Eindruck, dass die Menschen, die sich mit Achtsamkeit beschäftigen, eine andere Form von Wachheit bzw. Bewusstheit gegenüber ihrer Umwelt entwickeln“, beschreibt es die Lehrerin Nanine Schulze (Krämer 2019, S. 31) und ergänzt: „Achtsamkeit trägt dazu bei, dass wir klarere Entscheidungen treffen, wissen, was zu tun ist und wann wir Stopp sagen müssen.“

„Achtsamkeit als Akt der Wiedererinnerung“

Ein dritter, nicht unwesentlicher Aspekt der Achtsamkeitspraxis ist, dass wir unsere gewohnten Selbstbilder und die daraus entstehenden Verhaltensmuster in Frage stellen: Führt mich die Anpassung an ein System, welches mich durch den Kampf um Statuserhalt in einem permanenten Alarmmodus versetzt, zu wirklicher Lebenszufriedenheit? Wäre hier nicht ein scheinbarer Verzicht – mit dem uns die Kritiker klimafreundlicher Veränderung erschrecken wollen – nicht sogar ein Gewinn?

Als grobe Verkürzung auf den Nenner gebracht: mehr gemeinschaftliches MiteinanderSein, als individueller Konsum und Luxus. Schaue ich genauer hin, erkenne ich, wann ich verinnerlichten Mustern von Wohlstand folge oder nach neu gestalteten lebenserhaltenden Gesellschaftsstrukturen und einem entsprechenden Lebensstil strebe.

In einer Studie zum Zusammenhang der Sustainable Development Goals (SDGs) und menschlichem Wohlbefinden wird eine starke Korrelation zwischen umgesetzter nachhaltiger Entwicklung und den selbst berichteten Maßen zum Wohlbefinden festgestellt (De Neve & Sachs 2020). Als europäisches Beispiel wird häufig Dänemark zitiert.

Es belegt sowohl in der Umsetzung nachhaltiger Energiegewinnung, Landwirtschafts- und Mobilitätstrukturen, als auch auf der Wohlbefindensskala herausragende Plätze. Das kann auf das kulturelle Selbstbild zurückgeführt werden, das gemeinschaftlichem, „herzlichen Zusammensein“ und dem Naturerleben einen hohen Stellenwert gibt.

So kommt auch der „Achtsamkeitskritiker“ Donald Purser (2021) zu dem Schluss, dass Achtsamkeit als „Akt der Wiedererinnerung“ (S. 20) zu sehen ist und wahrzunehmen, „was tatsächlich passiert, uns dazu zu verpflichtet, kollektives Leid zu reduzieren“ (ebd. S. 19).

Und ich mag ergänzen, damit auch zu einem echten Wohlbefinden zu führen.

Susanne Krämer

 

Literatur:

Cunsolo, A., Harper, S.L., Minor, K.,Hayes, K., Williams, K.G., Howard, C. (2021). “Ecological grief and anxiety: the start of a healthy response to climate change?” The Lancet Planetary Health, DOI: 10.1016/S2542-5196(21)00278-3

De Neve, JE., Sachs, J.D. (2020). „The SDGs and human well-being: a global analysis of synergies, trade-offs, and regional differences.” Sci Rep 10, 15113 DOI: 10.1038/s41598-020-71916-9

Huppertz, M., Schatanek, V. (2021). Achtsamkeit in der Natur: 101 naturbezogene Achtsamkeitsübungen und theoretische Grundlagen. Paderborn: Junfermann.

Krämer, S. (2019) Wache Schule: Mit Achtsamkeit zu Ruhe und Präsenz. Paderborn: Junfernmann

Myers, M. (2018): Improving Military Resilience through Mindfulness Training. U.S. Army Medical Research and Materiel Command (USAMRMC). Einzusehen hier.  (letzter Zugriff am 2.11.2018).

Purser, R. (2022) Wie Achtsamkeit die neue Spiritualität des Kapitalismus wurde. Frankfurt a.M.: Mabuse.

Rupprecht, S. (2014): Achtsamkeit macht Schule?! Fördert ein Achtsamkeitstraining das Lehrerwohlbefinden und die Unterrichtsqualität? München: Grin.

Susanne Krämer leitet das Projekt „Achtsamkeit in der Bildung und Hoch-/Schulkultur“ (ABiK) am Zentrum für Lehrer*innenbildung und Schulforschung der Universität Leipzig. Ziel des Vorhabens ist eine breitflächige Verankerung von Achtsamkeitsangeboten an der Hochschule. Alle angebotenen Formate schließen die Achtsamkeitsdimensionen von individueller, sozialer und ökologischer Achtsamkeit mit ein. Krämer ist in den Netzwerken „Achtsamkeit in der Bildung“ und „Achsame Hochschulen“ aktiv. Zu ihrem Buch „Wache Schule: Mit Achtsamkeit zu Ruhe und Präsenz“ bietet Susanne Krämer eine gleichnamige Fortbildung für Lehrer*innen an. Sie ist Dozentin in der AVE-Weiterbildung für Pädagog*innen.

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  • Fische im Strom: LP / photocase.de
  • Susanne Krämer: privat