Dank John Bowlby und allen, die seit den 50er Jahren nach ihm im Sinne der Bindungstheorie geforscht haben, wissen wir, dass Entwicklung, emotionale Regulation und auch Lernen am besten möglich sind, wenn ein Kind gut gebunden ist und von einer feinfühligen Bezugsperson begleitet wird.
Die Pädagogik ist seit langem bemüht, dies in den familiären und institutionalisierten Alltag einzubringen. Leider sind die Bedingungen in Kitas und Schulen nicht immer ideal, doch das System ist auf dem Weg. Jugendliche Schüler sind aber aus diesem Blickwinkel noch ein relativ unbearbeitetes Feld.
Beziehungsarbeit ist Vorbeugung
Eine empathische Beziehung von Anfang an ist die beste Prophylaxe für eine gesunde Ich-Werdung. Eltern und Fachpersonen sollten sich dies mitnehmen in ihren Alltag mit kleinen Kindern und es im Jugendalter umwandeln anhand der sich verändernden Gegebenheiten.
Die Grundpfeiler der Beziehungsorientierung wie Respekt, Kommunikation auf Augenhöhe, Straffreiheit, Mitgefühl, Regeln des Miteinanders usw. bleiben stets gleich. Sie müssen in der Pubertät nur etwas neu ausgerichtet werden und etwas mehr Raum für die Jugendlichen, ihre Werte und Vorstellungen lassen.
Mit dem Beginn der Pubertät ändert sich die Beziehung zu den Eltern, aber auch zu anderen Erwachsenen wie Lehrkräften. Teenager begeben sich auf den Weg zu sich selbst. Auf Grund von individuell sehr unterschiedlichen Pubertätsverläufen mit verschiedenen Geschwindigkeiten bei den einzelnen Entwicklungsbereichen wie Körper, Gehirn oder Gefühlsleben kommt es dabei leicht zu „Stolperern“:
Das eine passt nicht zum anderen, das Äußere nicht zum Inneren, die Jugendlichen wollen erwachsen sein, können aber oft noch nicht entsprechend umsichtig handeln; das Umfeld sieht sie oft noch als Kinder, erwartet andere Male erwachsene Entscheidungen. – Das macht es den Teenagern selbst, aber auch den Eltern und Lehrkräften nicht leicht. Ängste sind manchmal die Folge.
Die Erwachsenen sind gefragt, hier einen Mittelweg zu finden zwischen Loslassen, sichernder Nähe und dem sensiblen Vorgeben einer Richtschnur. Die zeitweise Egozentrik der Teenager, ein unverschämt anmutender Tonfall, emotionale Überforderung und andere typische Begleiterscheinungen der Pubertät können uns Große verunsichern und wütend machen.
Um hier in Folge dann auch nicht zu streng oder aber überbehütend zu werden, hilft es, sich genau zu informieren. Denn ich muss nicht bekämpfen oder fürchten, was ich gut kenne. Weiß ich, was los ist, kann ich mich besser anpassen.
Was passiert im Teenager?
Die Aufgabe der begleitenden Erwachsenen ist daher, sich über Veränderungen im jugendlichen Gehirn und im Hormonhaushalt zu informieren. Wissenswert ist zum Beispiel:
- Jugendliche wollen und müssen neue Dinge ausprobieren, haben dabei aber noch weniger Dopaminrezeptoren (für die „Glückshormone“) im Gehirn als ein 25-jähriger Mensch. Sie müssen daher mehr Risiko eingehen, um die gleichen guten Gefühle zu spüren wie ein Erwachsener.
- Die Melatoninproduktion verändert sich und bestimmt den neuen Schlafrhythmus. Das jugendliche Kind entscheidet sich also nicht bewusst dafür, erst nach Mitternacht müde zu werden und morgens zum Schulstart schwer aus dem Bett zu kommen.
- Teenager distanzieren sich manchmal emotional, um sich selbst vor überströmenden Emotionen und Unsicherheiten zu schützen. Der Erwachsene sollte versuchen, die scheinbare Gefühlskälte nicht persönlich zu nehmen. usw.
Die Erwachsenen können langsam überflüssig werden
Eltern und Lehrkräfte sowie alle anderen, die mit Jugendlichen arbeiten, könnten sich bewusst werden, unter welchen Bedingungen die Ich-Werdung des Jugendlichen abläuft. Es ist hilfreich zu verstehen, dass sie nicht gegen die Erwachsenen geschieht, sondern von den Teenagern für sich. Wie sieht ihre Rolle dabei aus: Im Miteinander können wir Großen langsam überflüssig werden. Es gibt Problemfelder, aber auch so viele Chancen.
Wir dürfen da sein als Vorbild, als Leitplankengeber, dabei aber die Heranwachsenden auch das Großsein üben lassen – einschließlich des Fehlermachens. Es ist hilfreich und beziehungsfördernd, mit ihnen auf kluge und achtsame Art zu reden, beispielsweise nach dem Vorbild der Gewaltfreien Kommunikation nach Rosenberg oder des Aktiven Zuhörens nach Gordon. Wir können selbst lösungsorientierte Konfliktführung üben und versuchen, den Teenagern mehr zu vertrauen. Wir sollten ihnen echtes Interesse entgegenbringen, auch wenn ihre Themen uns nerven oder uns unverständlich sind. So bleiben wir ein Team!
Damit das alles gut gelingt, ist es hilfreich, frühzeitig in Familien Rituale zu etablieren, bei denen man in Kontakt kommt und richtig innige Zeit zusammen hat. Denn je mehr Rituale es im Kindesalter gibt, desto mehr bleiben übrig, wenn unser Kind pubertiert und mehr ins Außen und zu Freunden strebt. Das können feste Zeiten für gemeinsame Wege, Gesprächsrituale oder wiederkehrende Unternehmungen sein. Diese Zeiten sollten bestimmt sein von einem wertschätzenden Miteinander – und nicht nur vom Regeln des Alltags und Austausch über Schulisches.
Ich kann einem Teenager hier beispielsweise sagen, wenn er oder sie in meinen Augen etwas Falsches tut, aber muss dies nicht hart und besserwisserisch tun. Ich kann es mitfühlend versuchen, „gütig und weise“ wie Bert Powell u.a. es im Buch „Der Kreis der Sicherheit“ beschreiben. Das geht in Beziehung ohne Strafen und ohne die Integrität der/des Jugendlichen zu verletzen. So bleiben wir im aktiven Miteinander und lassen kein Gegeneinander entstehen.
Fragen, zuhören, verstehen wollen, Kompromisse suchen
Gegnerschaft wäre eine schlimme Blockade für die Beziehungsarbeit in der Pubertät: Lasse ich Misstrauen aufkommen, verletze ich mein Kind in seinen Grenzen oder treibe ich es durch Machtgehabe und Willkür von mir weg, so wird es schwer sein, die Beziehung zu erhalten. Dann fällt es auch schwer, die/den Jugendlichen davor zu schützen, zu weit links oder rechts vom Weg abzukommen. Fragen, zuhören, verstehen wollen, Kompromisse suchen – das ist es, was hilft.
Bei alledem sollte ich neben dem Teenager auch die anderen und mich selbst im Blick haben: Regeln des sozialen Miteinanders und Empathie für das Umfeld sind Grundpfeiler einer beziehungsorientierten Begleitung. Dazu kommen von mir gelebter Optimismus und Selbstfürsorge, Gelassenheit, Nachsicht mit sich selbst und Nein sagen können. So kann ich selbst stark sein und das Kind in eine Zukunft als sozial gut eingebetteter und persönlich gesund entwickelter Mensch begleiten. Angst brauchen wir wirklich nicht zu haben.
Inke Hummel
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Inke Hummel ist pädagogische Beraterin bei sAchtsam Hummel und Autorin für Kinderbücher und Erziehungsratgeber. Im Verein „Bindungs(t)räume“ setzt sie sich dafür ein, dass Eltern und Pädagog*innen die Bedürfnisse von Kindern besser verstehen. Ihre neuesten Bücher: „Mein wunderbares wildes Kind“ (2021), „Nicht zu streng, nicht zu eng“ (2022, SPIEGEL-Bestseller) - beide bei humboldt erschienen.