Junge am Meer

Mein Kind entscheidet!?

Eine der Fallen im Alltag mit unseren Kindern ist der Glaube, dass eine respektvolle, „achtsame“ Begleitung darin besteht, Kinder alles selbst entscheiden zu lassen. Steve Heitzer erinnert uns Eltern, dass Kinder unsere liebevolle Führung brauchen.

PORTAL FÜR ACHTSAMKEIT IN DER PÄDAGOGIK

Völlig einverstanden: Kinder können schon als Babys signalisieren, was sie mögen und was nicht. Es gibt einen stetig wachsenden Rahmen für Kinder, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Schon Kleinkinder können und sollten selbst entscheiden, was und wie viel sie essen wollen.

Und doch haben wir als Erwachsene die Aufgabe, auf das „große Ganze“ zu schauen und auch Entscheidungen zu treffen, die Kinder nicht treffen können und sollten. Dabei kann es manchmal vorkommen, dass Kinder unsere Entscheidungen nicht verstehen. Und es kann sein, dass es Entscheidungen sind, für die wir nicht geliebt werden.

Aber es lohnt sich, in den kleinen Dingen den „Mut zum Buhmann“ zu lernen, um in den schwer wiegenden Dingen gerüstet zu sein, etwa was die Nutzung von Smartphone, Tablet und Co betrifft. Viele Expert*innen sind sich mittlerweile darin einig, dass die Zeit vor den Bildschirmen für Kinder zu ihrem eigenen Schutz begrenzt werden muss .

Erfahrung und Verantwortung

Wer davor die Augen verschließt, und meint, solche Entscheidungen den Kindern überlassen zu können, beugt sich vielleicht nur dem Druck der Masse oder verpasst entscheidende Momente, wo es gilt, in Verantwortung für das Wohl unserer Kinder nicht nett zu sein.

Erwachsene sind manchmal in der Gefahr, Kindern Entscheidungen abzunehmen, die sie tatsächlich treffen können und sollten. Aber öfter noch laufen sie Gefahr, ihnen Entscheidungen zu überlassen, die sie als Erwachsene in ihrer Verantwortung für die Kinder treffen sollten.

Erwachsene haben viel mehr Erfahrung und sie haben die Verantwortung, im Kontext ihrer jeweiligen Situation für das Wohl und Heranwachsen ihrer Kinder Entscheidungen zu treffen. Ein Spezifikum der Spezies Mensch liegt gerade darin, dass ihr Nachwuchs viele viele Jahre braucht, um ganz die Verantwortung für sich selbst übernehmen zu können.

Das ist eine biologische Tatsache, auf die wir in unserem Selbstverständnis als Eltern und Pädagog*innen zurückgreifen können, und der wir gerecht werden müssen. Kurz: Wir können der Natur, dem Leben, uns selbst vertrauen, dass sie uns diese Aufgabe zutraut. Und zumutet.

„Möchtest du heute in die Kita gehen?“

Auch bei uns im Kindergarten dürfen die Kinder viel selbst entscheiden, aber bei weitem nicht alles: Jeder Bereich hat seine Regeln. Und eine ganze Gruppe von Kindern, von Menschen inklusive den Erwachsenen, braucht ein ständiges Abwägen, wie viel Freiheit jeder und jedem einzelnen zugestanden werden kann.

Für manche Eltern beginnt aber das erste Missverständnis manchmal schon damit, dass sie mit der Einstellung kommen, dass die Kinder „selbstverständlich selbst“ entscheiden, ob sie Kindergarten gehen wollen oder nicht. „Magst du heute gehen oder nicht?“

Ich weiß, das klingt für viele wie ein Luxusproblem. Aber manche Eltern haben das und es ist nur ein Beispiel für viele andere Bereiche; und weil Eltern nur das Beste für ihr Kind wollen, nehmen sie an, ihre Kinder sollten das entscheiden.

Aus 20 Jahren Erfahrung kann ich mitteilen: Das klappt in 99% der Fälle nicht. Ein Kindergarten kann noch so toll sein und die Pädagog*innen noch so bemüht – für viele Kinder ist es immer wieder anstrengend, sich für einige Stunden in einer Gruppe von Kindern in einer Einrichtung außerhalb ihres Lebensortes bewegen zu müssen.

Es ist wunderbar, wenn die Eltern den Spielraum haben, sie gelegentlich oder auch regelmäßig für einen Pausentag zuhause lassen zu können. Aber ein Kind immer wieder selbst entscheiden zu lassen, ob es gehen möchte oder nicht, überfordert die Kinder oft – und auch die Eltern. Und es kollidiert mitunter auch mit Rahmenbedingungen in der Einrichtung.

Authentische Bedürfnisse – Wollen oder brauchen?

Diese Falle trifft natürlich auch auf viele andere Fragen und Bereiche zu. Jesper Juul sagte einmal: „Kinder wissen immer was sie wollen, aber nicht immer was sie brauchen!“

Auch meine Lehrer*innen Rebeca und Mauricio Wild sprachen immer von „authentischen Bedürfnissen“ der Kinder, denen wir als Erwachsene gerecht werden sollten.

Das dritte Eis innerhalb von zwei Stunden ist so etwas, das Kinder vielleicht wollen, aber sicher kein authentisches Bedürfnis. In der großen Salatschüssel für alle herumzumantschen, macht sicher auch Spaß, d.h. dem Kind wenigstens. Aber das authentische Bedürfnis liegt tiefer, nämlich in den sinnlichen Erfahrungen, die Kinder tatsächlich buchstäblich mit Händen greifen lässt: Erde, Wasser, unterschiedliche Qualitäten, ein Universum an Sinneseindrücken. Dafür können und sollten wir Zeit und Raum schaffen. Dann fällt es uns auch leichter, es in der Salatschüssel nicht zu erlauben.

Unsere Aufgabe als Erwachsene besteht immer darin, auf das Ganze zu schauen, was die Gesundheit und Entwicklung des Kindes betrifft, was die Familie als Ganze oder eine Gruppe von Kindern betrifft. Und dazu gehört auch, die eigenen Möglichkeiten und Grenzen, sowie die eigenen authentischen Bedürfnisse als Erwachsener im Blick zu haben.

Vom Knecht zum Diener des Kindes

Erwachsene haben durchaus die Aufgabe, über einige Jahre ihre Bedürfnisse ein Stück weit zurückzustecken, um ihre Kinder möglichst gut begleiten zu können – je kleiner, desto krasser: denken wir an die ersten Lebenstage und -Wochen, wo sich tatsächlich alles um die Neu-Ankömmlinge drehen muss.

Aber im Laufe der Zeit müssen auch wir Erwachsene eine gute Balance finden, Aufgaben und Verantwortung unter den Eltern gut aufteilen und schließlich die Unterstützung durch Pädagog*innen und Einrichtungen in Anspruch nehmen.

Große Pädagog*innen wie Maria Montessori oder Arno Stern sprachen gern von der dienenden Rolle, die wir Erwachsene dabei unseren Kindern gegenüber einnehmen. Eine liebevolle Beziehung zu unseren Kindern wird diese dienende Rolle in sich verändernder Intensität und Form ein Leben lang ausüben; aber das ist nicht damit zu verwechseln, sich zum Knecht unserer Kinder zu machen.

„Ich bin hier der Chef!“

Manchmal fordern uns Kinder heraus, genau in diese Falle nicht zu gehen. Im Kindergarten brauchte es für mich etwa 10 Jahre, bis ich mich zum ersten Mal zu einem Kind sagen hörte: „Weil ich hier der Chef bin!“ Es brauchte einige Bücher von Jesper Juul, um auch als Pädagoge das Wort „Führung“ in den Mund zu nehmen.

Bei allem Bemühen um Achtsamkeit in allen Bereichen unseres Zusammenlebens und -arbeitens mit Kindern braucht es die Einsicht, dass wir die Erwachsenen sind und uns nicht von unserer Verantwortung davonstehlen können. Dass wir manchmal deutlich zum Ausdruck bringen müssen, dass Kinder diese Aufgabe noch nicht übernehmen können. Dafür braucht es den o.g. „Mut zum Buhmann“, d.h. auch Entscheidungen zu treffen, für die man von Kindern nicht geliebt wird.

Ein gesundes Maß an Führung und die Übernahme von Verantwortung für das Wohlergehen von Kindern und für das Funktionieren einer Gruppe ist gleichzeitig Teil einer grundsätzlich „entspannten Umgebung“ und damit eine gute Grundlage für die Entwicklung der Kinder.

„Dann schickt mich doch einfach ins Bett!“

Eine Geschichte dazu von Rebeca und Mauricio Wild, die sie gerne von einem Gespräch mit Eltern erzählten, das sie bei diesen zuhause führten. Als es zusehends störte, dass die Kinder laut waren und herumsprangen, und die Eltern sich zwar darüber ärgerten aber nicht klar kommunizierten, meinte eines der Kinder schließlich: „Dann schickt mich doch einfach ins Bett!“

Ist das nicht eine Riesen-Erleichterung? Kinder leiden nicht nur unter autoritären Eltern, die ihnen keine Luft zum atmen lassen; sie leiden auch, wenn Eltern nett sein wollen, aber ihre Verantwortung und Aufgabe nicht wahrnehmen. Oder wenn sie ihre Kinder zu manipulieren versuchen und indirekt Druck machen, dass sie etwas tun sollten, ohne es direkt auszusprechen, oder wenn sie zwischen den Zeilen zum Ausdruck bringen, dass sie nerven.

Auch die Elternberaterin Marie Wiese plädiert für unsere Führungsrolle als Mutter oder Vater. Und sie sagte in einem Interview [Moment by Moment 01/2021, S.68]:

„Konflikte hat eine Familie immer. Konflikt heißt: Zwei Menschen zur gleichen Zeit haben unterschiedliche Bedürfnisse. Das ist ein Konflikt, es ist kein Problem. […] Schwierig wird es, wenn Eltern denken: „Wenn wir alles richtig machen würden, gäbe es keine Konflikte und wir wären eine glückliche Familie. Denn dann sind sie frustriert und sauer, und die Kinder denken, sie machen die ganze Zeit etwas verkehrt. Aber eigentlich ist alles normal. […] Als Zweijähriger rege ich mich auf, trete irgendwo gegen oder heule [weil ich kein Eis kriege], und dann ist es wieder gut. Meine Gefühle haben mich wieder ins Gleichgewicht gebracht. Schwierig wird es, wenn ich Schuld dafür kriege, dass ich ein Eis will, oder es mir immer erklärt wird, und ich soll es verstehen.“

Meine Einladung an Sie: Kein schlechtes Gewissen, wenn Sie sich angesprochen fühlen, sondern Erleichterung, Zumutung und Zutrauen, dass Sie der Erwachsene sein dürfen, der entscheiden darf, was in seiner Verantwortung liegt.

Wir sind dazu da, für unsere Kinder das größere Ganze im Blick zu behalten und für eine entspannte Umgebung zu sorgen. Dazu gehören Entscheidungen, die unsere Kinder nicht immer nachvollziehen können. Kinder haben einen wachsenden Rahmen für ihre eigenen Entscheidungen, den wir immer wieder ausloten müssen. Und Kinder dürfen auch wütend und frustriert sein. Und wir dürfen lernen, dass wir nicht alles erklären können, schon gar nicht Gefühle weg-erklären!

Sie dürfen Entscheidungen treffen! Auch gegen den Willen Ihrer Kinder. Vertrauen Sie Ihrer Erwachsenenrolle und der Beziehung zu ihren Kindern. Wir dürfen unseren Kindern auf liebevolle Weise dienen. Aber wir brauchen uns nicht selbst zu knechten. Davon haben die Kinder nichts und wir auch nicht. Wir dürfen dienen und zugleich führen. Unsere Kinder brauchen unsere Hingabe und unsere Verantwortung.

Steve Heitzer

 

Weitere Informationen

„Achtsamkeit kann zu einem unerreichbaren Ideal werden. Steve Heitzer zeigt uns drei vermeidbare Achtsamkeits-Fallen. Und ermutigt Eltern: Achtsamkeit heißt echt zu sein, nicht perfekt.“

Lesen Sie dazu gerne auch zwei weitere Artikel von Steve Heitzer:

Achtsame Eltern – müssen wir immer nett sein?

Heile Welt mit Achtsamkeit?

Steve Heitzer ist Montessoripädagoge und besuchte Fortbildungen bei Rebecca Wild, Jesper Juul u.a. Er ist Theologe, Achtsamkeitslehrer und arbeitet seit 20 Jahren mit Kindern. Steve lebt in Innsbruck und gibt Kurse, Fortbildungen und hält Vorträge zur verschiedenen pädagogischen Themen, berät Eltern im Coaching und arbeitet zum Thema Achtsamkeit und Spiritualität. Hier kommen Sie zu seiner Seite.

Sein Buch "Kinder sind nichts für Feiglinge. Ein Übungsweg der Achtsamkeit" erschien 2016 im  Arbor Verlag. Mehr Infos zum Buch finden Sie hier.

Bildquellen dieser Seite anzeigen

  • Junge am Meer: Micha Trillhaase - Fotografie / photocase.de
  • Steve Heitzer: Sebastian Schieder