Kind grimmig

Kinder wollen unsere Grenzen testen – oder?

Grenzen sind ein beliebtes pädagogisches Thema und weit verbreitet die Annahme: Kinder testen, wie weit sie gehen können. Steve Heitzer erläutert verschiedene Aspekte von „Grenzensetzen“ und ermutigt uns, nicht jeden Gedanken zu glauben.

PORTAL FÜR ACHTSAMKEIT IN DER PÄDAGOGIK

Mit seinem Buch „Kinder brauchen Grenzen“ hat Jan Uwe Rogge 1994 dazu sicher seinen Teil beigetragen, dass sich heute scheinbar alle einig sind: „Kinder brauchen Grenzen“. Doch was meinen „alle“ damit?

Muss man Kindern „Grenzen setzen“, weil Kinder das einfach brauchen? Oder sind Grenzen nicht etwas Natürliches? Alles (Leben) ist begrenzt. Wir alle haben unsere persönlichen Grenzen, die wir im Kontakt miteinander ausloten und respektieren lernen dürfen bzw. müssen. Und wir alle erfahren Grenzen, wir stoßen an, wir stehen an, wir lernen: Hier geht es nicht weiter, selbst wenn ich mit dem Kopf durch die Wand will.

Es ist im pädagogischen Setting wie zuhause in der Familie viel gewonnen, wenn wir diese natürlichen Grenzen wahrnehmen und mit ihnen umgehen lernen. Jede Gemeinschaft, jede Kindergruppe, jede Familie hat bzw. entwickelt auf ihre Weise zusammen ein gewisses Setting, damit sich im besten Fall alle wohl fühlen können.

Grenzen geben Freiheit

Die Freiheit jedes und jeder Einzelnen braucht einen Rahmen. Diese natürliche Bedeutung und Wirklichkeit von Grenzen gilt es gemeinsam zu erkennen und respektieren, anstatt die Debatte um „Kinder brauchen Grenzen“ als Hintertür zu den alten Vorstellungen von Erziehung und Disziplinierung zu nützen.

Ebenfalls weit verbreitete ist die Annahme: Kinder suchen Grenzen. Kinder loten die Grenzen aus. Kinder testen uns, um zu sehen, wie weit sie gehen können. Auch das klingt nach: Wir wissen, wie Kinder sind, und wie man mit ihnen umzugehen hat.

Aus meiner Sicht besteht hier die Gefahr, dass sich ein Glaubenssatz etabliert hat, der uns dazu bewegt, in die alten, mitunter autoritären, Muster von Recht und Ordnung zurückzufallen; weil Kinder doch wieder wie ungehobelte Menschen erscheinen, die man zurechtweisen und „maßregeln“ muss, damit sie gesellschaftsfähig werden; denen man zeigen muss, wie „man sich benimmt“.

Versuchen wir tiefer zu schauen.

Brauchen Kinder Grenzen?

Kinder brauchen Halt, Sicherheit, Geborgenheit. Dazu gehört Klarheit. Dazu gleich noch mehr. Zwei Aspekte finde ich hier wichtig:

(1) Pädagogische Einrichtungen wie Kitas haben Regeln, die den Abläufen und einer entspannten Atmosphäre in der Gruppe dienen sollen. Diese Art von „Grenzen“ für die Kinder sind für die Gruppe und das Setting einer Einrichtung wie auch in einer Familie hilfreich und notwendig. Dass Kinder mitunter eine Weile brauchen, um sich an solche Regeln und Settings zu gewöhnen, sollten wir uns immer wieder bewusst machen, vor allem bei Kindern, die die ersten in ihrer Familie sind bzw. die einzigen in der Familie bleiben.

(2) Wir dürfen uns daran erinnern, dass Menschen generell persönliche Grenzen haben; wir nennen das auch Integrität. Das gilt für Eltern wie für Pädagog*innen, und natürlich auch für die Kinder selbst. Wir alle haben unseren persönlichen Schutzraum, den andere – auch Kinder – achten lernen müssen. Hilfreich ist für mich wieder Jesper Juuls Hinweis, dass (in meinen Worten) Kinder die Eigenheit haben, so oft über unsere Grenzen zu trampeln, bis wir erst merken, dass hier unsere Grenzen sind.

Testen Kinder uns aus?

Wenn ich tiefer schaue, kommen mir Erwachsene in den Sinn, die nicht greifbar sind. Die zwar zu ihren Kindern etwas sagen, aber ohne eine entsprechende Klarheit, ohne Nachdruck, ohne Sicherheit. Aus dieser Sicht verstehe ich, dass Kinder wissen wollen, wer wir sind, ob wir echt sind und ob wir meinen, was wir sagen. Das bezeichnen viele dann vermutlich als „austesten“.

Ein zweiter wichtiger Aspekt findet sich in der Sichtweise, die ich wiederum von Jesper Juul einmal gehört habe, und die meine Erfahrung bestätigt: Kinder suchen keine Grenzen, Kinder suchen Kontakt. Das hängt mit der Tatsache zusammen, dass Kinder Erwachsene manchmal „nicht greifen“ können. Und natürlich hängt es auch mit einem viel zu oft unterschätzten Bedürfnis nach körperlicher Nähe und Kontakt zusammen.

Tief genug schauen

Wie so oft geht es also darum, tief genug zu schauen, um ein Verhalten von Kindern zu verstehen, und v.a. ihre Bedürfnisse zu erkennen. Das ist schwieriger, wird aber den Kindern natürlich viel mehr gerecht, als immer wieder vage zu behaupten, dass „Kinder Grenzen brauchen“, und uns und unsere Grenzen testen. Und es trägt dazu bei, Rückfälle in alte autoritäre Muster zu verhindern.

Wenn wir all diese Aspekte beachten, wird es uns nicht so leicht passieren, nur auf irgendwelchen Regeln zu pochen. Wir werden immer wieder erkunden, wonach ein Kind im jeweiligen Fall sucht, bzw. was es braucht, wenn es Grenzen überschreitet. Sonst sind wir bei „Grenzverletzungen“ schnell fertig mit der Devise, dass Kinder eben Grenzen testen und wir sie ihnen eben aufzeigen müssen.

Dieser – wie jeder – Glaubenssatz verengt unsere Wahrnehmung und triggert mitunter die alten Verhaltensmuster, wo wir von vornherein schon wissen, was Kinder warum tun, und was unsere Aufgabe ist. Achtsamkeit in der pädagogischen Praxis bedeutet, Kinder nicht zu schnell zu verstehen, Glaubenssätze zu erkennen und sich von ihnen zu distanzieren; sich immer wieder neu auf eine Sitution einzulassen, die von Moment zu Moment zu einem Forschungsprojekt werden kann.

Steve Heitzer

 

Praxisbeispiel: Kindern Grenzen setzen?

Begleiten statt verbieten – Medienkompetenz in der Familie

Konflikte mit Kindern friedlich lösen

Steve Heitzer ist Montessoripädagoge und besuchte Fortbildungen bei Rebecca Wild, Jesper Juul u.a. Er ist Theologe, Achtsamkeitslehrer und arbeitet seit 20 Jahren mit Kindern. Steve lebt in Innsbruck und gibt Kurse, Fortbildungen und hält Vorträge zur verschiedenen pädagogischen Themen, berät Eltern im Coaching und arbeitet zum Thema Achtsamkeit und Spiritualität. Hier kommen Sie zu seiner Seite.

Sein Buch "Kinder sind nichts für Feiglinge. Ein Übungsweg der Achtsamkeit" erschien 2016 im  Arbor Verlag. Mehr Infos zum Buch finden Sie hier.

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  • Kind grimmig: behrchen / photocase.de
  • Steve Heitzer: Sebastian Schieder